«Die wirtschaftspolitische Reformpolitik steht zurück hinter der machtpolitischen Agenda der türkischen Regierungspartei AKP», sagt Dirk Lehmkuhl, Professor für Europäische Politik an der Universität St. Gallen. Zwar seien bestimmte positive Aspekte wie der grosse Heimmarkt oder die gute geografische Lage nach wie vor vorhanden. Doch die negativen Aspekte drohen langsam zu überwiegen.
Notwendige wirtschaftliche Reformen nicht angegangen
Zu Beginn seiner Regierungszeit trieb Erdogan wirtschaftliche Reformen voran und verhalf der Türkei zu starkem Wirtschaftswachstum. Mit der Unterstützung des Währungsfonds wurde beispielsweise der Wechselkurs flexibilisiert und die Unabhängigkeit der Zentralbank gefestigt. Die Infrastruktur wurde ausgebaut und der Mittelstand gestärkt. Das Bruttoinlandsprodukt in der Türkei hat sich seit der Jahrtausendwende mehr als verdoppelt.
Es scheint jedoch, als sei der Zenit überschritten. Dirk Lehmkuhl beobachtet bereits seit 2012, dass wirtschaftspolitische Reformen hinter machtpolitischen Interessen anstehen müssen. Ein dringendes Problem, welches nicht angegangen werde, sei das strukturelle Handelsdefizit: «Die Türkei importiert sehr viel mehr als sie exportiert. Dies führt zu einem enormen Bedarf an externen Ressourcen.» Hinzu kämen die schwerfällige Bürokratie und eine Zunahme der Korruption.
Verschlechtertes Investitionsklima
Aus Sicht von ausländischen Investoren sind die unberechenbaren Rahmenbedingungen alles andere als attraktiv.
Michael Bolliger, Leiter der Anlagestrategien für Schwellenländer bei der UBS, vermutet, dass neben den Touristen auch Investoren vermehrt ausbleiben werden: «Die Investitionstätigkeit wird deutlich zurückgehen. Die Unsicherheiten sind gross, auf der politischen aber auch der volkswirtschaftlichen Seite.»
Wegen des ausgewiesenen Handelsdefizits sei die Türkei jedoch besonders auf ausländisches Geld angewiesen, um die überschüssigen Importe zu finanzieren, so Michael Bolliger.
Die wirtschaftlichen Baustellen zugunsten machtpolitischer Interessen weiterhin zu ignorieren, könnte auch Erdogan persönlich teuer zu stehen kommen.
Die Bevölkerung bekommt die ersten Konsequenzen schon zu spüren. So ist gemäss Dirk Lehmkuhl das Pro-Kopf-Einkommen bereits rückläufig. Damit drohe Erdogan, den Rückhalt in der Bevölkerung – welchen er auch dem wirtschaftlichen Aufschwung verdanke – zu verlieren.