Marcel Tanner ist emeritierter Professor für Epidemiologie und medizinische Parasitologie an der Uni Basel. Er war von 1997 bis 2015 Direktor des Swiss Tropical und Public Health Institute in Basel. Aktuell ist er Mitglied der vom Bundesrat eingesetzten «Swiss National Covid-19 Science Task Force».
SRF: Marcel Tanner, wir sitzen für dieses Interview mit grossem Abstand voneinander, wir haben uns zur Begrüssung nicht die Hand gegeben. Ist es da nicht etwas sonderbar, wenn nun die Menschen am Montag wieder zum Coiffeur gehen dürfen, wo direkter Kontakt zwischen Menschen entsteht?
Marcel Tanner: Irgendwann muss man wieder damit anfangen. Wenn man Distanz hält und Hygieneregeln beachtet, dann ist es möglich. Man kann jetzt mit einer neuen Normalität beginnen.
Das heisst: Sie persönlich hätten keine Angst beim Coiffeur?
Nein, das wäre dann wie eine medizinische Konsultation. Die Coiffeuse und der Coiffeur schützen sich mit Mundschutz.
Bald sollen auch die Schulen wieder öffnen. Expertinnen und Experten sind sich jedoch nicht einig, was das auslösen könnte. Was denken Sie?
Man weiss tatsächlich sehr wenig über Kinder und ihre Rolle in der Epidemie. Man weiss, dass sie ein Teil der Übertragung sind, aber nicht die treibende Kraft bei der Übertragung. Interessant ist, dass Kinder meistens nicht von Kindern, sondern von Erwachsenen angesteckt werden. Das zeigt, dass man Kinder wieder in die Schule schicken kann - mit gewissen Vorsichtsmassnahmen. Natürlich ist es schwierig, in einer Primarschule Abstand zu halten. Aber auch dort kann man Massnahmen zum Schutz vor Ansteckung ergreifen. Das sind primär die Hygienevorschriften. Man kann auch verzichten auf Rituale wie Sitzen im Kreis.
Also alles problemlos?
Nein, man muss bei jeder Lockerung, sei es die Öffnung der Coiffeurläden oder der Schulen, stets überprüfen, was passiert. Und man muss reagieren können. Ich bin der Meinung, dass es richtig ist, jetzt mit einer langsamen Öffnung zu beginnen. Eine schnellere Öffnung wäre wohl falsch. Denn für das soziale Leben wäre es schlimm, nach einer zu schnellen Öffnung wieder in den Lockdown zu müssen.
Wann können wir denn wieder leben wie vor der Pandemie?
Wenn etwas dermassen Einschneidendes passiert wie diese Pandamie, können wir nicht wieder leben wie vorher. Es herrscht dann eine neue Normalität- Zumindest bis wir einen Impfstoff haben.
Die Schätzungen, bis wann ein Impfstoff vorliegt, variieren stark. Was schätzen Sie?
Wenn alles gut geht, haben wir in anderthalb Jahren einen Impfstoff.
Heisst das, bis dahin sind beispielsweise Grossveranstaltungen undenkbar?
In diesem Jahr dürfte es keine Grossveranstaltungen mehr geben. Fussballspiele vor vielen Zuschauern wären wirklich nicht sinnvoll. Früher denkbar scheinen mir allenfalls Veranstaltungen mit vielleicht 30 bis 50 Menschen.
Rechnen Sie mit einer zweiten Ansteckungswelle mit dem Coronavirus?
Studien haben gezeigt, dass selbst in Gegenden, die verhältnismässig stark betroffen waren von der ersten Welle, nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung Kontakt mit dem Virus gehabt und damit Antikörper gebildet hat. Ein grosser Teil der Bevölkerung kann also immer noch infiziert werden. Die Gefahr einer zweiten Welle ist daher vorhanden.