In den letzten Wochen und Monaten hat sich das gesellschaftliche Leben in der Schweiz in vielen Bereichen normalisiert. Aber die einst so natürlichen Begrüssungsrituale sind heute nicht mehr so selbstverständlich wie vor der Pandemie. Das sorgt im Alltag immer wieder für Verunsicherung: Soll ich nun Händeschütteln? Wie lehne ich ab? Roger Keller, Professor für Gesundheitspsychologie, ordnet ein.
SRF: Nach zwei Jahren Abstandhalten feiern, essen und treffen sich viele Menschen wieder normal. Wie beschreiben Sie die Situation bei Begrüssungen?
Roger Keller: Wir befinden uns im Moment oft in einem Dilemma. Wir wollen höflich sein beim ersten Kontakt mit einer Person. Und das hat bisher immer geheissen, dass wir uns die Hand geben. Heute ist es eher höflich, dass wir ein bisschen zögern und schauen, ob das Händeschütteln auch dem Bedürfnis des Gegenübers entspricht. Das Ritual des Händeschüttelns ist nicht mehr so klar.
Warum löst das eine Verunsicherung aus im Hinblick beim Aufeinandertreffen?
Der Handschlag ist mehr als nur Begrüssung. Er hat uns als Ritual auch Sicherheit gegeben in einer Situation, in der wir auf eine neue Person treffen. Der Handschlag ist hier gewissermassen der erste Schritt, eine Hilfe für den Einstieg in diese Situation. Zum Bedürfnis nach Sicherheit im sozialen Umgang kommt nun aber ein anderes: das Bedürfnis nach Gesundheit, dem Schutz vor einer Infektion. Viele Menschen müssen jetzt abwägen, was sie höher gewichten.
Eine nachvollziehbare Überlegung, die im alltäglichen Umgang aber dennoch für Missstimmung sorgen kann. Wie ist das zu erklären?
Das Ritual des Handschlags signalisiert Offenheit und Gesprächsbereitschaft. Wenn sich eine Person nicht an sie hält, kann das als Ablehnung interpretiert werden: «Die Person will nichts von mir wissen.» In Wahrheit ist es vielleicht anders, die Person will sehr wohl, möchte sich aber auch vor einer Virenübertragung schützen.
Inwiefern ist das auch eine Generationenfrage: Hängen ältere Menschen eher am Handschlag?
Studien dazu sind mir nicht bekannt. Aus meinen eigenen Beobachtungen würde ich aber sagen, dass junge Erwachsene und Jugendliche offener sind, wenn es darum geht, sich beim Begrüssen wieder zu berühren. Das hat wohl damit zu tun, dass sie vom Virus weniger bedroht sind, und dass sie ein grösseres Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Knüpfen neuer Kontakte haben.
Hat die Pandemie das Ende von Handschlag oder Küsschen als Begrüssungsritual eingeläutet?
Entscheidend dafür, welche Begrüssung sich als Norm durchsetzt, wird sein, ob eine Mehrheit sie anerkennt und praktiziert. Das hängt sicher stark davon ab, wie sich diese Pandemie weiterentwickelt: Überwiegen die Bedürfnisse nach sozialen Kontakten oder das Bedürfnis nach Gesundheit.
Ich kann mir gut vorstellen, dass sich gewisse neue Begrüssungsformen etablieren – vielleicht so, wie es andere Kulturen schon lange kennen: Dass sich die Menschen einfach verneigen.
Aktuell sind wir in einer Phase des Aushandelns. Es ist aber durchaus denkbar, dass der Handschlag als Begrüssungsritual verschwindet. Die Diskussion gab es bereits vor der Pandemie, bei der Frage, ob muslimische Schüler ihrer Lehrerin die Hand geben müssen. Es leben unterschiedliche Kulturen in der Schweiz, so dass sich auch andere Rituale etablieren könnten.
Das Gespräch führte Vera Büchi.