Obwohl Premierminister Boris Johnson vor einigen Wochen die Pandemie gewissermassen für beendet erklärt hat, kehrt die Normalität im Vereinigten Königreich nur zögerlich zurück. Die Britinnen und Briten tragen immer noch Masken und die Hand schüttelt einem niemand. Der Handschlag sei tot, ist zu lesen. Ein unappetitliches Relikt, das nie mehr zurückkehren werde.
«Natürlich ist es mitten in einer Pandemie keine kluge Idee, allen Leuten die Hand zu geben. Aber mittlerweile sind in Grossbritannien über 80 Prozent der Leute geimpft. Ich kann selbst in meinem Freundeskreis beobachten, wie der Handschlag langsam wieder zurückkehrt», sagt die Anthropologin Ella Al-Shamahi. Es sei nicht das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass der Handschlag vorübergehend verschwunden sei.
Der Handschlag zur Begrüssung gilt als Zeichen des Vertrauens. Wer die offene Hand hinstreckt, trägt keine Keule und kein Messer, so die gängige Interpretation. Eine schöne Geschichte, aber für die Anthropologin nicht die Wahrheit.
Das Händeschütteln sei keine kulturelle Errungenschaft der Menschen, sagt Ella Al-Shamahi. Die Feldforschung habe gezeigt, dass sich selbst unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, die Hand geben würden.
«Sie geben sich auf eine sehr ähnliche Weise die Hand wie wir Menschen. Wenn zwei Schimpansen miteinander kämpfen, gehen sie am Ende aufeinander zu und schütteln sich die Hände.» Wir können laut Al-Shamahi also davon ausgehen, dass die ersten Menschen, die vor 7 Millionen Jahren lebten, sich ebenfalls die Hand reichten.
Angeborenes Ritual
Dass dies so gewesen sein könnte, zeigen Forschungsberichte über Stämme im Indischen Ozean oder in der Südsee, die lange isoliert gelebt hatten, bevor sie mit dem Rest der Welt in Kontakt kamen.
«Dabei fällt auf, dass einige dieser Gruppen, die nie Kontakt mit der Aussenwelt hatten, den Händedruck längst praktizierten. Sie haben den Händedruck also weder bei Forschungsreisenden abgeschaut noch im Internet gesehen, sondern er war bereits Teil ihres Alltags, gewissermassen angeboren.»
Einige Gruppen, die nie Kontakt mit der Aussenwelt hatten, praktizierten den Händedruck längst.
Die Anthropologin Ella Al-Shamahi ist deshalb überzeugt, dass der Handschlag nicht ein kulturelles, sondern ein biologisches Relikt ist, das in unserem Erbgut gespeichert ist. Aus reiner Höflichkeit wird in unseren Genen aber selten etwas programmiert. Was die Natur hervorbringt, hat fast immer einen Sinn und einen Zweck.
Die Antwort liege buchstäblich auf der Hand, sagt Al-Shamahi. «Wir kommunizieren nicht nur mündlich und visuell miteinander, sondern auch chemisch. Wenn wir einander die Hand geben, tauschen wir chemische Signale, Gerüche aus.»
Wir kommunizieren nicht nur mündlich und visuell miteinander, sondern auch chemisch.
Experimente würden zeigen, dass wir unbewusst riechen, ob jemand glücklich oder ängstlich sei. «Man kann beobachten, dass Leute nach einer Begrüssung oft ganz kurz die Hand ans Gesicht führen, um daran zu schnuppern. Auch Umarmungen dienen der Geruchswahrnehmung.»
Für eine Anthropologin ist dies nicht besonders überraschend. Selbst sieben Millionen Jahre nach seinem ersten Auftauchen auf der Bühne des Lebens sei der Mensch ein Rudeltier geblieben. Der Handschlag lasse sich nicht einfach so abschütteln, Pandemie hin oder her. Wir werden uns auch künftig die Hand geben, um zu schnuppern, ob die Chemie stimmt.