Dass die ursprünglich sehr ähnliche sprachliche Ausgangslage sich so auseinander entwickelte, hat viel mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts zu tun.
Die Mundart schien dem Tode geweiht
Denn lange sah es auch in der Deutschschweiz nicht gut aus für die Mundart. Vor 150 Jahren waren viele Gelehrte in der Schweiz sehr pessimistisch: In 20 Jahren spreche kein Mensch mehr Schweizerdeutsch, soll der Zürcher Fritz Staub Mitte der 1870er Jahre einem Kollegen gegenüber gesagt haben. Er musste es wissen, denn Fritz Staub gehörte 1862 zu den Gründern des Schweizerischen Idiotikons (vgl. Box).
Hochdeutsch war im Vormarsch
Wir wissen heute, dass es anders gekommen ist. Im 19. Jahrhundert gab es aber gute Gründe für den verbreiteten Mundartpessimismus. Noch um 1850 hielt man Predigten und Reden, führte man Gerichtsverhandlungen und Parlamentsdebatten vorwiegend auf Mundart. 50 Jahre später sprach man in diesen Situationen normalerweise Hochdeutsch.
Hochdeutsch in der Schule
Seit 1874 galt die allgemeine Schulpflicht und Hochdeutsch war Pflichtfach. Denn Lese- und Schreibkompetenz wurden immer wichtiger in einer zunehmend komplexeren Welt, in der die Industrialisierung wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwälzungen rasend schnell vorantrieb.
Englische Ausdrücke, eigenartige Pluralformen oder Germanismen: Der schöne Schweizer Dialekt geht bachab. Wie schlimm steht es um unsere Sprache? Nadia Zollinger ist besorgt, doch SRF-Dialektforscher Markus Gasser sieht die ganze Sache lockerer.
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Vorbild Deutschland
Deutschland war bis zum Ersten Weltkrieg in vielen Dingen ein Vorbild. Entsprechend galt Hochdeutsch auch in breiteren Bevölkerungsschichten als schick, gelehrt, weltmännisch. Besonders im Norden und Osten der Deutschschweiz und besonders in den Städten begannen offenbar immer mehr Einheimische, im Alltag Hochdeutsch miteinander zu sprechen – ähnlich wie schon seit längerem in Deutschland.
Diese positive Haltung gegenüber Deutschland und dem Hochdeutschen änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg, mit dem Aufstieg der Nazis und mit der Abgrenzung gegen den grossen Nachbarn im Zuge der geistigen Landesverteidigung.
Mundart zur Abgrenzung und Identitätsstiftung
Aber die Mundart war schon lange vorher politisiert worden und ist zum Symbol für die Eigenart und Eigenständigkeit der Schweiz geworden. Im frühen 19. Jahrhundert schrieb etwa der Thurgauer Theologe Johann Kaspar Mörikofer, die Mundart wahrt «die volksthümliche Gränze und gewährt uns die gehörige Umschlossenheit» – also Abgrenzung gegen aussen, Identitätsstiftung nach innen.
Streit um den Wert der Mundart
Zwar herrschte in der Schweiz ein regelrechter Gelehrtenstreit. Auch hier bezeichneten nicht wenige die Mundart als roh und ungeschliffen, ja als verderbtes Hochdeutsch – ein Hindernis für die Kultivierung und Höherentwicklung einer Nation. Dieser Grundhaltung wegen gilt Mundart in Deutschland bis heute als Symbol für Unbildung.
Mundart wird zum Symbol für die Nation
Aber in der Deutschschweiz setzte sich schliesslich die positive Grundhaltung durch. Hier stand Mundart je länger desto mehr für das Ursprüngliche, Natürliche und besonders für das «Eigenthümliche». Gerade im Umfeld der gesellschaftlichen Umbrüche dieser Zeit, als Menschen massenhaft in die Städte und in die Fabriken zogen, sich entwurzelt und entfremdet fühlten, konnte die Mundart zum Symbol für das Heimatliche werden und so auch zum Symbol für die Nation schlechthin.