Seit einigen Jahren wählen viele Eltern für ihre Kinder möglichst individuelle Namen – die Namenvielfalt hat stark zugenommen. Der beliebteste Bubenname 2021, Noah, wurde gerade einmal an 1.2 Prozent der neugeborenen Buben vergeben; der beliebteste Mädchenname, Mia, an lediglich 1.1 Prozent.
Ab dem Spätmittelalter und bis weit ins 18. Jahrhundert was das ganz anders – die Mehrheit der Menschen teilte sich ein paar wenige Namen.
Namenweitergabe als Familientradition
Ursprünglich hatten die Alemannen ein riesiges Repertoire an Namen gehabt. Ihre germanischen Namen waren üblicherweise aus zwei Elementen zusammengesetzt, die fast beliebig kombiniert werden konnten (Lutger, Gerhard, Gertrud, ...). Dazu waren ab dem 12. Jahrhundert Namen christlicher Heiliger wie Johannes, Peter, Anna oder Elisabeth gekommen.
Die spätere Namenarmut entwickelte sich ab dem Hochmittelalter. Zuerst wurde es in Adelsfamilien zur Tradition, ihren erblichen Machtanspruch zu demonstrieren, indem der Name des Vater an den erstgeborenen Sohn weitergegeben wurde. Diese Tradition übernahm die breite Bevölkerung – zum Teil innert weniger Generationen.
Bald wurden auch die Namen der Mutter oder der Grosseltern an die Kinder weitergegeben. Später war es ausserdem Brauch, Kinder nach ihrer Gotte bzw. ihrem Götti zu nennen. So schrumpfte das Namenrepertoire innert einiger Jahrzehnte drastisch.
Über die Hälfte hiess Hans
Dies illustriert ein zufälliger Ausschnitt des Taufregisters von Liestal: Im Herbst 1542 hiessen vier von fünf Vätern Hans und drei von fünf Müttern Anna. Bei den Namen der Neugeborenen zeigt sich mehr Vielfalt: Sie hiessen Magdalena, Bernhart, Barbara, Hans und Peter.
Verlässlicher als dieser exemplarische Blick ins Taufregister von Liestal ist Erika Weltis Untersuchung der Taufregister des Kantons Zürich: Sie zeigt, dass im 16. bis 18. Jahrhundert ungefähr jeder siebte Bub Hans getauft wurde. Bei den Mädchen war Anna die Spitzenreiterin: Im 16. und 17. Jahrhundert wurde jedes fünfte Mädchen nach der heiligen Anna benannt, im 18. Jahrhundert war es etwa jedes siebte.
Doppelnamen zur Unterscheidung
Noch eindrücklicher wird das Bild, wenn man Doppelnamen mitzählt: Im 18. Jahrhundert hiessen über die Hälfte der Zürcher Neugeboren Hans Peter, Hans Jakob, Hans Heinrich und ähnlich. Zusammen mit den «einfachen» Hans machten sie fast zwei Drittel aus.
Auch bei den Mädchen nahmen die Doppelnamen im 18. Jahrhundert zu. Jedes fünfte Zürcher Mädchen hiess Anna Barbara, Anna Elisabeth, Anna Margaretha oder ähnlich. Diese Doppelnamen scheinen eine Folge der Namenarmut gewesen zu sein – sie erlaubten es, ein Kind Anna zu nennen und es gleichzeitig von anderen Annas unterscheiden zu können.
Wieder mehr Namen im 19. Jahrhundert
Ab dem 16. Jahrhundert kamen wieder mehr Namen ins Repertoire – unter anderem alttestamentarische (David, Esther), antike (Julius, Claudia) und französische (Charlotte, Louis). Die Namenvielfalt nahm aber erst ab dem 19. Jahrhundert wieder merklich zu.
Und seit Ende des 20. Jahrhunderts ist die Anzahl verschiedener Namen, die an Neugeborene vergeben werden, regelrecht explodiert. Das hat zum einen mit der elterlichen Kreativität und dem Bedürfnis nach Individualität zu tun, zum andern aber auch mit anderssprachigen Zuwandererinnen und Zuwanderern, die ihre eigenen Namen mitgebracht haben.