Das den Gotthardpass umgebene Bergmassiv ist hinter Nebel verborgen. Weisse Schwaden beschränken die Sicht und hinterlassen eine gewisse Orientierungslosigkeit. Zu hören ist nur der Wind. Doch plötzlich macht sich der Himmel auf und die Sicht wird klarer.
Symbolisch betrachtet haben wir den Nebel durchbrochen und sind mit den anderen Teilen der Schweiz in Verbindung getreten.
Von diesem Bild haben sich fünf Musikerinnen und Musiker für einen neuen gemeinsamen Song inspirieren lassen. «Symbolisch betrachtet haben wir den Nebel durchbrochen und sind mit den anderen Teilen der Schweiz in Verbindung getreten», so Marc Aymon aus der Romandie. Die fünf haben sich noch nie vorher gesehen, geschweige denn zusammengearbeitet.
Sie kommen alle aus unterschiedlichen Regionen der Schweiz, sprechen verschiedene Sprachen – und hatten ein grosses Ziel: innerhalb von fünf Tagen einen gemeinsamen, mehrsprachigen Song zu komponieren.
Im Rahmen des Projekts «Chantez-vous Suisse» aller ersten Radiosendern der SRG haben sich folgende Musikerinnen und Musiker dieser herausfordernden Aufgabe gestellt: Aus der Deutschschweiz Christoph Trummer, für die italienischsprachige Schweiz Chiara Dubey, Marc Aymon ist aus der Romandie, Mattiu Defuns aus dem Graubünden und die Baslerin La Nefera vertritt die Migrationssprachen der Schweiz mit ihrer Muttersprache Spanisch.
Die fünf sind in verschiedenen Genres – von Hip-Hop, Singer-Songwriter bis Modern Classic – zu Hause und singen oder rappen jeweils in ihrer Muttersprache.
Wie entstand der gemeinsame Song?
Et voilà: Dies ist herausgekommen bei dem Versuch, die Sprachregionen auf dem mythisch aufgeladenen St. Gotthard durch die Sprache der Musik näher zusammenzubringen.
«Plötzli chumi usem Nebel», «je vais sortir de la brume», «sevesin sur la nebla», «salgo de la niebla», «la nebbia», singen die fünf in den verschiedenen Sprachen.
«Der Nebel hat sich breit gemacht auf dem Gotthardpass. Er hat uns inspiriert», sagt Mattiu aus der Rumantschia. «Wir haben hier oben erlebt, dass wir kaum die eigene Hand vor Augen gesehen haben. Dann plötzlich ist der Nebel abgezogen und eine unbekannte Landschaft hat sich uns aufgetan. Dieses Erlebnis war für uns ein passendes Bild, das wir in unseren Song einfliessen lassen wollten», berichtet Trummer.
Der Song handle davon, aus dem Nebel herauszukommen und einander zu begegnen. Davon, sich auszutauschen und besser kennenzulernen. «Alle haben eine eigene Strophe geschrieben und darin beschrieben, wie sie die Ängste und Vorurteile, die sie vielleicht vor dieser gemeinsamen Woche hatten, loslassen können», so Trummer.
Musizieren kann ganz unmusikalisch anfangen. Am Anfang war da im Hospiz bloss ein leeres Whiteboard. Ideen wurden gesammelt. «Zu Beginn haben wir vor allem viel geredet. Wir wollten uns kennenlernen und ein Gefühl füreinander entwickeln», erzählt Mattiu.
Ein bunter helvetischer Sprachenmix
Dass alle eine andere Sprache sprechen, sei kein allzu grosses Hindernis gewesen. «Ich habe mich aber auch ertappt, dass ich drei Sprachen gemischt habe in einem Satz», so Chiara Dubey. Als Kommunikationssprache durchgesetzt hätten sich aber vor allem Deutsch und Französisch.
Selten seien sie auch mal auf Englisch ausgewichen, vor allem, wenn es schnell gehen musste. «Da habe ich das Klischee bestätigt», sagt Marc Aymon aus der Romandie und lacht. Von den Landessprachen könne er nur Französisch.
Mattiu wiederum spricht aber kaum Französisch. Aber da sei ja auch noch die Sprache der Musik. «Sobald ich an meiner Gitarre zupfe, finde ich eine Sprache, die alle verstehen.» Chiara Dubey gefiel der bunte Mix der Sprachen. «Mescoliamo un po tutte le lingue – wir mischen die Sprachen und verständigen uns auch über die Sprache der Musik», berichtet sie.
Auch der entstandene Song ist ebenfalls ein bunter Mix. Das gemeinsame Werk verbindet ihre Musikstile. Marc Aymon, Mattiu und Trummer bringen ihren Gitarrensound ein, Chiara spielt Violine und La Nefera rappt. Den fünf war wichtig, dass alle ihre Stile einbringen können. Mattiu beschreibt es so: «So entsteht ein musikalischer Blumenstrauss.»
Mescoliamo un po tutte le lingue – wir mischen die Sprachen und verständigen uns auch über die Sprache der Musik.
Dass es so gut harmonieren würde – sowohl musikalisch als auch menschlich – war nicht von Beginn weg klar.
Es sei ein herausforderndes Projekt, die Zeit knapp, meint Marc Aymon aus der Romandie: «Ich wusste nicht, ob es klappen wird. Das fand ich aufregend und wollte deshalb mitmachen.» Für Marc hat sich dabei auch ein Wunsch erfüllt. Schon lange träumte er davon, einmal auf Rätoromanisch zu singen.
Man muss die Menschen kennen, um zu wissen, wer sie sind. Wir sind uns hier begegnet.
Der interregionale Austausch ist den Musikerinnen und Musikern sprachlich, musikalisch und auch persönlich gelungen. «Man muss die Menschen kennen, um zu wissen, wer sie sind. Wir sind uns hier begegnet», sagt La Nefera.
Hier sind fünf Menschen aufeinandergetroffen, die sich über die Musik verbunden haben – auch über die Sprachgrenzen hinaus.
Schweizer Musikkulturgut mehrsprachig interpretiert
Neben dem neuen mehrsprachigen Song, den die fünf zusammen komponiert haben, brachten alle auch noch ein Lied aus ihrer Sprachregion mit, das aus ihrer Sicht von besonderer Bedeutung ist. Auch diese Lieder wurden neu und mehrsprachig interpretiert.
Das Gefühl des nicht erfüllten Fernwehs beobachte ich bei vielen Deutschschweizern.
Trummer entschied sich für «Rosmarie und i» von Polo Hofer. Das Lied erzählt die Geschichte eines jungen Paares, das in den frühen 70er-Jahren per Autostopp nach Paris und weiter nach Spanien reist, dann aber auch wieder in den Alltag zurückkehren muss.
Dieses Fernweh beobachte er bei vielen Deutschschweizern. Gleichzeitig aber auch die Zurückhaltung und vielleicht manchmal auch der fehlende Mut, es dann doch zu tun und aufzubrechen.
Auch einen ursprünglich italienischsprachigen Song existiert nach dieser Woche in mehreren Sprachen. Chiara Dubey hat das Lied «Voglio Volare» mitgebracht. Es sei kein typisches Tessiner Lied, wo es darum gehe, das Leben zu geniessen und ein Glas Wein zu trinken.
Es sei ein Lied, das an ein tragisches Ereignis erinnert. Im Jahr 1938 flogen fünf Tessiner Piloten von Dübendorf zurück ins Tessin nach Lugano. Über den Alpen hat sie jedoch ein grosses Unwetter überrascht. Sie prallten gegen einen Berg, stürzten ab und kamen ums Leben.
Chiara Dubey hat dieses Lied gewählt, weil die Geschichte mit dem Flug über die Alpen zurück in die Heimat für sie ein gewisses Tessiner Lebensgefühl darstellt. «Viele haben das Gefühl, sie müssten das Tessin verlassen, um etwas zu erreichen, jenseits der Alpen», sagt Dubey. Auch sie selbst ist vor zehn Jahren nach Zürich emigriert, kehrt aber immer wieder gerne in ihre Heimat zurück.
Aus der rätoromanischen Schweiz hat Mattiu das Chorlied «La sera sper il lag» des Komponisten Gion Balzer Casanova mitgebracht, aus der Romandie wurde das alte Lied «La Délaissée», für das sich Marc Aymon entschieden hat, mehrsprachig interpretiert und La Nefera entschied sich für «Babylon» von Black Tiger, dem ersten Mundart-Rapper der Neunzigerjahre.