Immer mobiler, digitaler, individualistischer: Gesellschaftliche Veränderungen stellen das Vereinsland Schweiz vor grosse Herausforderungen. Mit unterschiedlichen Ansätzen versuchen sich Vereine zu helfen.
Digital und vernetzt
Mitgliederschwund war in den letzten Jahren oft Thema, wenn es um den Zustand der Schweizer Vereine ging. Das hat auch die Musikgesellschaft Lyss erlebt. Als Simon Scheurer vor drei Jahren das Präsidium übernommen hat, hatte die MG Lyss gerade mal dreizehn Mitglieder.
Rückblickend war es ein Vorteil, dass der Verein am Boden war. Das hat eine grosse Veränderung ermöglicht.
Scheurer und das Vorstandsteam entschieden sich für einen radikalen Neuanfang: Sie setzten auf Aktionen in sozialen Medien und beim musikalischen Programm auf Popmusik mit Gesang. Neue Devise: Der Verein ist nicht für sich selbst da, sondern für alle. In diesem Sinn wurde auch das 150-Jahr-Jubiläum gefeiert: Anstatt eines Anlasses für Mitglieder wurde ein Festival veranstaltet. Dieses hat über 30 Formationen eine Bühne geboten und war so erfolgreich, dass es nun mithilfe anderer Vereine weitergeführt wird.
Entscheidend ist nicht die Zahl der Mitglieder, sondern die Zahl der Menschen, die motiviert mitmachen und mitspielen.
Mittlerweile ist die MG Lyss ein lebendiger Verein mit breitem Netzwerk. Für Präsident Scheurer hat dabei nicht zuletzt ein Wegkommen von der traditionellen Mitgliedschaft eine Rolle gespielt: Wer bei der MG Lyss mitmusizieren oder -helfen will, kann das auch temporär tun, ohne Mitglied zu werden.
Klein und agil
Personalmangel für Vorstandsämter ist ein anderes Problem, welches viele Vereine kennen. 2018 war das beim Turnverein Dicken im Toggenburg so, als sich niemand für das Präsidium finden liess. Um einen leeren Posten zu verhindern, übernahm damals Laura Locher.
Es wurde jahrelang als selbstverständlich wahrgenommen, dass Leute in den Verein kommen. Mit der heutigen Mobilität ist das aber alles andere als gegeben.
Locher hat mit dem Vorstandsteam diverse Veränderungen angestossen. Die radikalste war eine Verkleinerung des Vorstands von sieben auf drei Mitglieder. Als Dreierteam könnten sie schnell entscheiden und umsetzen, sagt Locher. Auf diese Weise haben sie in die Nachwuchsförderung investiert oder die Hauptversammlung zu einem Event gemacht.
Die Mitglieder mit an Bord zu holen, war oft schwierig. Oft kam die Rückmeldung, man wolle etwas weiterführen – weil es immer so war.
Hatte der TV Dicken vor vier Jahren etwa 40 Mitglieder, so sind es heute fast doppelt so viele. Locher blickt stolz auf diese Entwicklung, sieht aber weiter Veränderungsbedarf: «Der herkömmliche Verein ist ein Auslaufmodell. Wollen sich die Menschen künftig noch festlegen, fix zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu trainieren?» Hier werde der TV Dicken noch neue Wege finden müssen.
Partizipativ und urban
Ein sich vom herkömmlichen Verein stark unterscheidendes Modell pflegt die «Urban Equipe» mit Sitz in der Stadt Zürich: Der Verein versteht sich als Zusammenschluss von Menschen, die sich für eine zukunftsfähige Stadt einsetzen möchten. Die Vereinsarbeit ist projektorientiert und partizipativ.
Der grösste Unterschied zum klassischen Verein ist, dass wir nur wenige Mitglieder haben und auf den traditionellen Aufbau mit einem Vorstand aus bekannten Köpfen verzichten. So können wir schnell und ungebunden handeln.
Ein Beispiel: Die Urban Equipe hat ein Buch erarbeitet, wie man sich organisiert, wenn man etwas verändern will. Laut Mitgründerin Sabeth Tödtli kann man fast von einem Vereinsratgeber sprechen, allerdings mit Fokus auf aktivistische, politische Initiativen. Aktuell läuft ein Projekt mit dem Mieterinnen- und Mieterverband gegen Leerkündigungen. Der Verein ist hier die Schnittstelle zu den Betroffenen, sucht Gespräche und hilft beim Organisieren.
Unser Verein ähnelt in vielem einem Planungsbüro oder einer Partizipations-Agentur. Wir haben aber die Vereinsform gewählt, weil wir damit auch betonen, dass wir gemeinnützig, nicht gewinnorientiert arbeiten.
Mitglieder im eigentlichen Sinn kennt der Verein nicht. Bei Projekten helfen jedoch viel mehr Leute mit, ohne Mitglied zu sein. Nur der engste aktive Kreis, vier bis acht Personen, hat eine Mitgliedschaft. Diese Personen beziehen teilweise einen Lohn vom Verein, statt umgekehrt Beiträge zu zahlen. Finanziert wird die Urban Equipe über Aufträge, Förderbeiträge und manchmal Crowdfundings.