Scham ist ein Grund, warum die meisten Opfer schweigen. Ein anderer Grund ist fehlendes Vertrauen. Opfer müssen sich oft rechtfertigen, weil sie Vorurteilen ausgesetzt sind.
«Sie hat es doch gewollt!»
Aussagen wie «Sie hat es doch gewollt!», « Wie viel hat sie getrunken?», «Warum kommt sie erst jetzt damit?» oder «Das kann ich mir nicht vorstellen!» sind für Betroffene ein Schlag ins Gesicht, aber keine Seltenheit.
Solche Vorurteile sind verbreitet, erklärt Jan Gysi im Interview. Auch bei Profis, die mit Opfern arbeiten: Ärzte, Anwältinnen, Richter, Polizistinnen.
«Er doch nicht!»
«Vergewaltigungsmythen sind stereotype Vorstellungen bezüglich Opfer sexualisierter Gewalt», sagt Jan Gysi und zählt auf: «Dass die meisten Vergewaltigungen Falschbeschuldigungen sind, dass jemand der sexualisierte Gewalt erlebt hat selber schuld ist, oder dass sie es provoziert hat.»
«Ein weiterer Mythos ist, dass eine Vergewaltigung durch einen Unbekannten an einem dunklen Ort einer Frau passiert, die sich mit aller Kraft wehrt, schreit und Verletzungen hat. Daten zeigen aber, dass das nur ein ganz kleiner Teil ist. Meistens kennen sich Täter und Opfer. Manchmal nur einige Stunden, manchmal länger», sagt Gysi.
Dass sich Opfer und Täter meist kennen, ist nichts Neues. Dennoch fällt es oft schwer zu glauben, dass es der Ex, der Onkel oder Trainer gewesen sein soll. Oder eine berühmte Persönlichkeit. Also wird das Opfer angezweifelt.
Vergewaltigungsmythen zeigen, dass es Vorstellungen davon gibt, was eine «echte» Vergewaltigung ist. Was davon abweicht, wird ungern geglaubt. Eben - meist ist der Täter nicht der Fremde im Dunkeln, sondern jemand aus dem engen Kreis.
Vorurteile strafen Opfer und schützen Täter
«Diese Vorurteile gehen zulasten der Opfer und haben zur Folge, dass Täter davonkommen», sagt Jan Gysi.
Diese Vorurteile gehen zulasten der Opfer und haben zur Folge, dass Täter davonkommen.
Dies erklärt auch, warum der Vorwurf der Falschbeschuldigung so unterschiedlich wahrgenommen wird: Glaubt man den Daten, ist die Zahl der Falschbeschuldigungen klein, glaubt man den Behörden, ist die Zahl hoch.
«Falschbeschuldigungen gibt es und es ist für Polizei und Staatsanwaltschaft eine grosse Herausforderung, diese zu erkennen», sagt Gysi. Sie seien aber deutlich weniger häufig, als es subjektiv viele Mitarbeiter bei Polizei und Justiz wahrnehmen würden. Grosse internationale Untersuchungen zeigten, dass zwei bis acht Prozent der Beschuldigungen falsch seien.
Es ist ein Wegschauen - auch der Gesellschaft.
Profis besser schulen
Müssten denn Profis, die mit Opfern sexualisierter Gewalt arbeiten, besser geschult werden? Gysi, der Fachpersonen schult und Vorträge hält, meint, dass sexualisierte Gewalt an Universitäten, Fachhochschulen und Polizeischulen nicht wirklich konsequent gelehrt würden: «Es ist ein Wegschauen - auch der Gesellschaft.»
Vermeintliche Lügen
Für Polizei und Staatsanwaltschaft sei es hilfreich zu wissen, was eine posttraumatische Störung sei, meint Gysi. Traumatische Erinnerungen würden nicht sofort chronologisch abgelegt: «Es kann sein, dass Opfer beim Erzählen von D zu B zu E zu A springen.» Die Gefahr sei, dass eine nicht informierte Ermittlungsbehörde als Lüge ansehe, was eine eigentlich Folge von Trauma sei.
Es sei auch möglich, dass Einzelheiten vorübergehend vergessen und erst mit der Zeit bewusst werden. Bei Polizei und Staatsanwaltschaft könne es ein Vorurteil sein, dass Informationen, die im Nachhinein gemacht werden, Lügen sind, um Aussagen zu korrigieren.
Opfer ziehen sich wegen Vorurteilen aus einem Fall zurück
Fühlen sich Opfer nicht verstanden, passiert es immer wieder, dass sie sich aus einem Fall zurückziehen: «Bei den Behörden kann der Eindruck entstehen, dass viele Beschuldigungen falsch sind», sagt Gysi.
Vorurteile gegenüber Opfern sexualisierter Gewalt halten sich hartnäckig, auch nach intensiven Diskussionen ein Jahr nach #metoo. Sich diesen Vergewaltigungsmythen bewusst zu sein - auch als Gesellschaft - würde nicht nur den Opfern, sondern auch der Aufklärung solcher Fälle dienen.