Musik spielt im Leben von Anna* (25) eine grosse Rolle. Die junge Frau aus der Romandie reist gerne quer durch Europa an Konzerte und Festivals. So auch vor rund vier Jahren, als sie ein grosses Festival in der Deutschschweiz besucht, um eine ihrer Lieblingsbands zu sehen, erzählt Anna im Interview.
Sie reist alleine an, lernt aber schon bald eine Gruppe neuer Leute kennen. Einer fällt ihr auf. Sie flirten. Sie knutschen. Abends wird es kühl. Anna geht ins Zelt, um eine Jacke zu holen. Er geht mit. Folgt ihr ins Zelt. Will Sex von ihr. Anna sagt Nein. Aber das nützt nichts. Sie wird von ihm vergewaltigt.
Anna spricht aus Scham jahrelang nicht darüber. Als sie sich nach und nach öffnet, merkt sie, wie gut es ihr tut, darüber zu sprechen: «Wenn du nicht darüber sprichst, bleibst du allein mit den falschen Fragen im Kopf. Warum ich? Was habe ich falsch gemacht?»
Wenn du nicht darüber sprichst, bleibst du allein mit den falschen Fragen im Kopf. Warum ich? Was habe ich falsch gemacht?
Unsensible Fragen: Wenn man zum zweiten Mal Opfer wird
Anna hat sich nach der Vergewaltigung eine Reihe von Fragen stellen müssen, die ihr das Gefühl von Schuld gegeben haben:
Der Arzt, der sie im Spital fragte, warum sie keine Klage einreicht. Wenn sie nichts tue, könnten weitere Frauen Opfer werden. Leute, die fragten, ob sie getrunken habe. Leute, die wissen wollten, ob sie sich gewehrt oder geschrien habe.
Du hast das Gefühl, mit Schreien alles nur noch schlimmer zu machen.
«In diesem Moment willst du nur überleben. Dein Körper stellt in den Überlebensmodus um. Du hast das Gefühl, mit Schreien alles nur noch schlimmer zu machen», sagt Anna.
Der schwierige Weg vor Gericht
Fragen, die nur schwer auszuhalten sind, hätten Anna auch erwartet, wäre sie vor Gericht gezogen. «Ich musste es zuerst für mich verarbeiten», erzählt sie im Gespräch.
Der Weg vors Gericht ist für viele Opfer einer Vergewaltigung schwierig. Auch, weil das Schweizer Sexualstrafrecht Vergewaltigung konservativ auslegt. Nach geltendem Recht können ausschliesslich Frauen vergewaltigt werden, als Täter kommen nur Männer in Frage:
Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.
Der Bundesrat strebt nun Reformen an und möchte eine geschlechtsneutrale Formulierung sowie die Mindeststrafe von einem auf zwei Jahre erhöhen.
Sex gegen den eigenen Willen ist juristisch gesehen keine Vergewaltigung
Für die Berner Juristin Nora Scheidegger braucht es eine weitere entscheidende Änderung: Ein Nein soll auch als Nein gelten beziehungsweise ein Ja als Ja. Sie stört, dass zusätzlich ein Nötigungsmittel angewendet werden muss: «Nur gegen den Willen reicht nicht», sagt sie im Interview.
Das bedeutet konkret, dass Sex gegen den eigenen Willen allein juristisch nicht als Vergewaltigung gilt - ausser, man wird zusätzlich bedroht, Gewalt gegen einen angewendet, psychisch unter Druck gesetzt oder zum Widerstand unfähig gemacht.
Scheideggers Doktorarbeit mit dem Titel «Das Sexualstrafrecht in der Schweiz. Grundlagen und Reformbedarf» erscheint diese Tage. Im Parlament ist eine Interpellation von Martina Munz (SP, SH) hängig. Munz möchte vom Bundesrat wissen, was er von einem Grundtatbestand hält, der sämtliche sexuelle Handlungen gegen den Willen eines Opfers unter Strafe stellt.
Für Anna würde dies bedeuten, dass ihr «Nein» vor Gericht ein Gewicht hätte.
«Ich traf ihn wieder an, er sah mich und winkte mir zu»
Anna ist dem Mann, der sie vergewaltigt hat, dieses Jahr per Zufall begegnet. «Ich habe total Panik geschoben», sagt sie. Er sah sie an und winkte ihr dann zu.
Da wusste sie, dass sie nun bereit ist, vor Gericht zu ziehen: «Ich möchte nicht, dass so jemand frei herumlaufen und so tun kann, als ob nichts gewesen wäre.»
Anna rechnet sich vor Gericht keine Chancen aus. Ihr Wort wird gegen seines stehen. Vergewaltigungen sind vor Gericht schwierig zu beweisen: Es gibt selten Zeugen, Beweise sind schwierig.
Ich muss es tun, weil es mir das Gefühl gibt, das mögliche getan zu haben. Darum mache ich es. Nur für mich
«Ich weiss, dass es kein gerechtes Ende geben wird. Ich werde nicht gewinnen. Das ist so gut wie nie der Fall», sagt Anna. «Damals hätte ich damit nicht umgehen können. Ich hätte mich ein zweites Mal als Opfer gefühlt.» Heute kann sie diesen Schritt tun. «Ich muss es tun, weil es mir das Gefühl gibt, alles getan zu haben, was in meiner Macht steht. Darum mache ich es. Nur für mich.»
*Name geändert