Geht man nur nach den Schlagzeilen, rufen Live-Auftritte von Robbie Williams heute mehr Mitleid als Euphorie hervor. Vor zwei Jahren gab der englische Popstar Texthänger zu und dass er darum einen Teleprompter für seine Lyrics benötigt – selbst für die ganz grossen Hits. Letzten Sommer übergab er sich während eines Konzerts. Und vor zwei Monaten ging dem 49-Jährigen der Schnauf aus, weshalb er seine Show kurz unterbrechen musste. «Es ist Long Covid», begründete er – und räumte im Juli ein, dass das eine Lüge war.
Aber Schlagzeilen erzählen nie die ganze Wahrheit, weshalb wir uns am Dienstagabend am Zürich Openair selbst ein Bild davon machen, wie eine Robbie-Williams-Show 2023 daherkommt. Bewaffnet mit seinem Best-of-Album «XXV» ballert der Brite während anderthalb Stunden Hit um Hit ins Publikum. Und das ganz ohne Stolperer wie die eingangs erwähnten – sorry an alle, die gehofft hatten, hier ein wenig Schadenfreude zu tanken.
Er begeistert – und wird begrapscht
Stattdessen zeigt der Engländer, warum er zu den grössten Pop-Entertainern der letzten Jahrzehnte gezählt wird. «My name is Robbie fucking Williams», ruft er zur Begrüssung und stimmt seine Britpop-Hymne an, die gleichzeitig Programm ist: «Let Me Entertain You». Dabei streckt er der feiernden Menge seinen in golden glänzende Hosen gepackten Hintern entgegen.
Auf diesem landen zahlreiche Fan-Hände, als der Musiker ein erstes Mal am Geländer ins Publikum lehnt. Verwerflich, klar, aber wie die meisten seiner treuen Anhängerinnen und Anhänger wurde er in einer Zeit gross, als so was noch nicht weitläufig als problematisch erkannt wurde.
Er schwelgt – und wird schlüpfrig
In den alten Zeiten schwelgt Robbie Williams mit Genuss, sie geben seiner 25-Jahre-Solokünstler-Show den narrativen Rahmen. Von den Boyband-Anfängen mit Take That erzählt er mit viel Augenzwinkern und spielt die unzensierte Version ihres ersten Musikvideos («Do What You Like») ab, in der sein nackter Po zu sehen ist: «Zu Beginn unserer Karriere mussten wir ein wenig Schwulenporno machen. Beim Dreh war ich 17.» Er folgt mit einem der vielen Crowdpleaser an diesem Abend: «Back for Good».
«Was weisst du über mein Leben?», fragt der Sänger einen Fan in der ersten Reihe. Als dieser selbstbewusst «alles» antwortet, kontert Robbie: «Kennst du meine Penisgrösse?» Wenn er zwischen den Songs den Mund aufmacht, wird es immer leicht schlüpfrig und bleibt stets entwaffnend charmant. Eben wie von ihm gewohnt.
Er weiss, was er tut – und fühlt mit
Beim musikalischen Rückblick auf seine über 30 Jahre im Showbusiness erinnert sich der Engländer sowohl an Höhenflüge als auch an Tiefschläge mit gut dokumentierten Sex-, Alkohol- und Drogenexzessen. Auch das ist man von ihm gewohnt.
Überraschend ist nichts, kalkuliert so ziemlich alles, und trotzdem wirkt es nie einstudiert. Robbie Williams ist ein Geschichtenerzähler, dem man gerne noch viel länger zuhören würde. Und er ist nach wie vor ein begnadeter Entertainer, dem seine ganz grossen Nummern wie «Feel», «Supreme» und «Angels» offensichtlich ebenso viel bedeuten wie den Tausenden am Zürich Openair, die sie inbrünstig mitsingen.
Oh, bevors vergessen geht: «Unter dem Durchschnitt», beantwortet Robbie seine selbst gestellte Frage von vorhin.