Als «volles Risiko» bezeichnet Sophie Hunger die Produktion ihres neuen Albums. Damit spricht sie die Bedingungen an, welche sie für die Aufnahmen von «Halluzinationen» gewählt hat.
Nicht irgendwie und nicht irgendwo
An zwei aufeinanderfolgenden Tagen spielte Sophie Hunger mit ihrer Band das neue Album ein. Die ganze Band zusammen. Nicht Spur für Spur. Nicht Song für Song. «Halluzinationen» wurde als ganzes Album am Stück eingespielt. Insgesamt sechsmal. Dreimal pro Studiotag.
Dies tat sie in den legendären Abbey Road Studios in London. «Wenn schon sterben, dann in Schönheit», gibt Hunger zu Protokoll und unterstreicht damit, dass sie sich hier einen Musikerinnen-Traum erfüllt hat. Schliesslich sprechen wir von den Aufnahme-Räumen, in welchen u.a. die Beatles Pop-Geschichte auf Band brachten.
Was ist daran so gut?
Es geht um Energie. Die Songs auf «Halluzinationen» sind wie unverhoffte Dates, bei denen nicht alles perfekt läuft und die gerade deswegen unendlich viel Charme versprühen. Hier wurde nicht konstruiert und optimiert. Hier wurde Musik gemacht. Hier wurde auf dem Seil getanzt. Ohne Fallnetz. Das hört und fühlt man.
Für Suppenhaar-Sucher mag «Halluzinationen» eine Weide sein. Um an dieser Disziplin Spass zu haben, muss man sich allerdings jegliche Liebe für kraftvolle Pop-Songs operativ entfernen lassen. Hungers Band spielt auf allerhöchstem Niveau und erzeugt auf diesen Aufnahmen eine Nähe, welche man sonst nur vom erstklassigen Live-Betrieb einer brillanten Band kennt.
Und die Songs?
«Halluzinationen» ist ein Grossstadt-Album. Entstanden in Hungers Berliner Wohnung. Es strotzt vor Urbanität und illustriert verschiedenste Krautrock- und Electro-Pop-Kapitel der letzten gut 50 Jahre. Immer wieder suchen die Songs das Zusammenspiel von akustischen und elektronischen Tonquellen, welche im besten Fall zu einem warmen Klangbild verschmelzen.
Textlich bleibt Sophie Hunger irgendwo zwischen der Geschichtenerzählerin in klassischer Singer-Songwriter-Manier und abstrakten Gedankenspielen, mit welchen sie durch Perspektivenwechsel andere Welten erschafft.
Ein Album für die Schlaufe
Für mich ist «Halluzinationen» das bisher beste Sophie Hunger-Album. Ganz sicher ist es ihr reifstes. Und ein unglaublich verspieltes Werk. Wer auf komplett durchgestylte und bis ans Limit geschliffene Pop-Produktionen steht, wird mit diesem Album nicht glücklich. «Halluzinationen» ist ein organisches Popmusik-Abenteuer, auf welches man sich gerne mehrfach einlässt, weil es mit jedem Mal hören wächst.
«Halluzinationen» erscheint am 4. September 2020