Ein Fest ruft oft eine Art Ausnahmezustand auf den Plan. Das fängt bei Geburtstagspartys an. Da wird der Familienknatsch vielleicht mal für ein paar Stunden unter den Teppich gekehrt. Plastikgeschirr landet auf Tischen und später neben noch geniessbaren Essensresten im Abfall.
Erzählt mir nicht, dass ihr noch nie inkonsequent, total uncool und unnachhaltig gehandelt habt, um irgendetwas einigermassen reibungslos und bequem über die Bühne zu bringen.
Wie im Kleinen, so im Grossen
Gravierender, politischer und ausgestellter sind die Vergehen oder Kompromisse, die Austragungsorte von Grossanlässen für deren Gelingen in Kauf nehmen. Länder, die Olympische Spiele, Fussballweltmeisterschaften oder eben den Eurovision Songcontest veranstalten, stehen besonders dann in der Kritik, wenn sie sich in einem politisch schwierigen Kontext befinden.
Unser Familienknatsch und unser Plastikgeschirr sind deren Menschenrechtsverletzungen, Umweltsünden, Korruption und weitere Missstände.
Trau dich zu träumen
«Dare to Dream» lautet das Motto des ESC in Tel Aviv. Ich weiss allerdings nicht so recht, was ich mit diesem Motto anfangen soll. Von was soll ich mich trauen zu träumen?
Was ich weiss: Verschiedene Organisationen und Einzelkämpfer probieren den Lichtkegel des Eurovision Song Contests zu nutzen, um auf die Missstände im Land des Gastgebers aufmerksam zu machen. Und ich weiss auch, dass das dem ESC nicht passt.
Der ESC soll eine apolitische Insel sein. Egal, wo er stattfindet. In Israel ist er sozusagen eine Insel auf der Insel. Schliesslich ist Tel Aviv eine Art Insel in Israel und hat wenig gemein mit dem restlichen Teil des Landes, welches an Komplexität kaum zu überbieten ist.
Augen zu und durch?
Es tut mir leid, aber ich kann die Raketen, die im Vorfeld israelische Städte trafen nicht einfach wegwischen, um der sauber geputzten Showbühne volle Aufmerksamkeit zu widmen. Ebenso wenig die Vergeltungsschläge Richtung Palästinensergebiete.
Wie kann es mir egal sein, dass sich orthodoxe Juden in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlen, wenn in ihrem Land am Sabbat gearbeitet, getanzt und Musik konsumiert wird? Wie kann es mich nicht kümmern, wenn Palästinenser die Gunst der Stunde nutzen, um darauf aufmerksam zu machen, dass für sie die Welt alles andere als in Ordnung ist?
Der ESC ist hochpolitisch
Wer behauptet Fussballweltmeisterschaften, Olympische Spiele oder der ESC seien nicht politisch, lebt komplett an der Welt vorbei. Hier treten Nationen gegeneinander an. Es geht um den Sieg. Es geht um Image. Es geht um Macht. Es geht um Deals und Sympathiebekundungen. Oder ums Gegenteil.
Und ja. Selbstverständlich geht es auch um Akzeptanz. Um Wertschätzung. Um LGBTQ. Um Unterhaltung. Ein bisschen vielleicht sogar um Musik. Aber eigentlich sind das auch nur Nebengeräusche. Denn: Die anderen Umstände, die im Vorfeld von solchen Veranstaltungen für kurze Zeit in den Fokus der Medien rücken, existieren nach dem Abbau der Showbühne weiter.
Im Fall von Israel und dem Nahostkonflikt müssen wir uns keine Sorgen machen, dass die Thematik aus dem Fokus verschwindet. Aber wie geht es den Leuten heute in Aserbaidschan (ESC 2010 in Baku)? Wie steht es um die Menschenrechte in der Ukraine (ESC 2017 in Kiew)? Wie klangen schon wieder die Nebengeräusche der Fussballweltmeisterschaften in Brasilien? In Russland? Wie gehen wir mit der kommenden WM in Katar, 2022, um?
Wir müssen darüber sprechen. Nicht nur im Vorfeld. Nein. Auch während der Veranstaltung. Und danach sowieso.
Meinen Freunden bin ich jedenfalls dankbar, wenn sie mir den Kopf waschen, sollten an meiner nächsten Party Plastikteller auf dem Tisch stehen.