Ich wollte mir diesen Film erst nicht ansehen
Wer will eine vierstündige Dokumentation über Michael Jackson sehen? Ich. Unbedingt. Was aber, wenn diese vier Stunden zwei Männern gehören, die Jackson in ihrer Kindheit ganz nahe waren? Ungesund nahe. Die Rede ist von sexuellem Missbrauch. Ausbeutung. Manipulation. Diese zwei Männer erzählen äusserst detailliert, was ihnen Michael Jackson hinter verschlossenen Türen angetan haben soll. Irgendwie wollte ich mir das nicht antun.
Nicht, weil ich nicht wollte, dass am Thron des «King Of Pop» gerüttelt wird. Nicht, weil ich nicht hören wollte, was diese beiden Männer zu sagen haben. Es war eher, dass ich mich nicht auf dieses Thema und diesen Film stürzen wollte, zu welchem sich ganz viele Leute bereits äusserten – bevor sie den Film gesehen hatten. Vielleicht wollte ich auch einfach nicht Teil der Aufregung sein, die in den nächsten Tagen und Wochen medial stattfinden wird.
Ausserdem war mir nicht klar, wieso die Filmemacher vier Stunden brauchen, um diese zwei Geschichten zu erzählen. Heute weiss ich es.
Gehirnwäsche braucht Zeit
«Leaving Neverland» ist ein äusserst prätentiöser und manipulativer Film. Das clevere Drehbuch macht uns Schritt für Schritt vertraut mit zwei Familiengeschichten. Drohnenflugaufnahmen über L.A. und die Neverland-Ranch zeigen uns den amerikanischen Traum, den diese Familien geschenkt zu kriegen schienen. Archivaufnahmen aus dem Familienalbum illustrieren, wie der grösste Popstar aller Zeiten Teil dieser Familien wird. Die Familien erzählen von Jackson, dem grossen Star und wunderbaren Menschen. Von Michael, der eigentlich wie ein Kind war. Von der Faszination für Michael Jackson und der Zeit, als sich alles wie ein Traum anfühlte. Dann: Erste Andeutungen des Albtraums hinter den Kulissen.
Der Rhythmus des Films ist perfekt. Die extrem detaillierten Beschreibungen über den angeblichen Missbrauch sind nur schwer zu ertragen. Sie sind aber so gesetzt und getimt, dass der Film nicht Gefahr läuft, Zuschauer zu verlieren. Denn das will er auf gar keinen Fall. «Leaving Neverland» hat ein klares Ziel, und das ist grösser als die Absicht, eine Geschichte zu erzählen. «Leaving Neverland» will, dass wir diese Geschichte glauben.
Sind die erzählten Geschichten glaubwürdig?
Mir ist klar, dass es mir nicht im Ansatz zusteht, diese Frage auch nur annähernd zu beantworten. Mir ist auch klar, dass ich diese Frage nicht beantworten kann. Selbst dann nicht, wenn ich ein Gefühl hätte, was stimmen könnte und was eher nicht.
Ich habe aber kein Gefühl. Keine Tendenz. Was klar ist: Hier sprechen Show-Profis, die auch andere Geschichten gekonnt erzählen könnten. Es sprechen zwei Männer, die vor Gericht und unter Eid schon das Gegenteil behauptet haben, was diese Geschichten betrifft. Das heisst aber noch lange nicht, dass ihre aktuellen Schilderungen nicht der Wahrheit entsprechen können.
Will ich mir die Frage stellen, was stimmt und was nicht?
Der Mensch hat ein sonderbares Bedürfnis, Fragen abschliessend beantworten zu wollen. Die tatsächliche Richtigkeit der Antwort spielt dabei nicht selten eine untergeordnete Rolle. Was stimmt und was stimmt nicht? Für mich war vor, während und auch nach dem Film klar, dass ich diese Frage nicht ins Zentrum stellen möchte. Ich bin froh, dass mir das gelungen ist. Alles andere wäre meiner Ansicht nach fatal.
Was klar ist: Wäre Michael Jackson nicht Michael Jackson, würde es diesen Film nicht geben. Was ebenso klar ist: Hätten diese beiden Männer als Buben keinen engen Kontakt zu Michael Jackson gepflegt, wären sie nicht die Männer, die sie heute sind. Und wir? Wir haben ein Bild von Michael Jackson. Dieses Bild ist garantiert nahe an dem Bild, das uns die Unterhaltungsindustrie über Jahrzehnte verkaufte und verkauft.
Wer war Michael Jackson?
Diese Frage sollten wir uns vielleicht stellen. Die ehrliche Antwort darauf: Wir wissen es nicht. Ein Superstar? Klar. Einer der grössten, wenn nicht der grösste Pop-Star aller Zeiten. Ein brillanter Musiker? Unbestritten. Eine schwer bis unmöglich zu fassende und umstrittene Persönlichkeit? Auch das trifft zu. An dieser Stelle mache ich für mich persönlich einen Punkt.
Was passiert nun mit Michael Jackson?
Was Michael Jackson getan oder nicht getan hat, ist natürlich alles andere als egal. Aufgrund eines prätentiösen Dok-Films zu entscheiden, ob Michael Jackson noch Teil der Musiksammlungen sein darf, scheint mir aber nicht hilfreich.
Sind wir in der Lage, das Werk vom Künstler zu trennen? Muss man es trennen? Darf es getrennt werden? Das sind schwierige Fragen.
Schliesslich ist und wird Michael Jackson nicht der erste und auch nicht der letzte grosse Künstler sein, bei welchem Nebengeräusche laut werden, die wir nicht einfach ignorieren dürfen.
Die Sache mit den Antworten bleibt schwierig.