«Eine meiner Patientinnen hat ihrem Gynäkologen von ihren Schmerzen erzählt. Er hat ihr daraufhin geraten, vor dem Sex Melkfett zu benutzen, damit es bei der Reibung nicht mehr schmerzt », erzählt Jürg Häcki, Plastischer Chirurg und Spezialist für Schamlippenverkleinerungen in der Lucerne Clinic und ausserdem Protagonist unserer neusten Folge von «Kreuz & Quer»:
Die allermeisten haben Schmerzen
90 Prozent seiner Patientinnen seien nicht einfach irgendeinem Schönheitswahn aufgesessen, sondern leiden unter Schmerzen, sagt Häcki. «Dazu gehören Schmerzen beim Sex, beim Velofahren oder beim Sport. Enge Kleider können ebenfalls dazu führen.» Ein Phänomen, das auch Dr. David Scheiner, Oberarzt an der gynäkologischen Klinik des Universitätsspitals Zürich, kennt. «Ich habe immer wieder Patientinnen, die vergrösserte Schamlippen haben und über Schmerzen klagen», sagt er.
Schweigen im Walde
Dass vergrösserte Schamlippen zu Schmerzen führen können, scheint also zumindest in Ärztekreisen mittlerweile anerkannt zu sein. Dennoch wird gesellschaftlich kaum über das Thema gesprochen. «Viele meiner Patientinnen haben jahrelang still gelitten, weil sie sich geschämt haben. Oder – wie die Frau im obigen Beispiel – negative Reaktionen seitens der Personen erfahren haben, denen sie sich anvertrauten», so Dr. Häcki. Und auch Dr. Scheiner ist überzeugt, dass die weibliche Intimzone immer noch ein Tabuthema ist, über das man ungern spricht.
Wachsende Nachfrage
Dennoch sind Schamlippenverkleinerungen ein (plastisch-)chirurgischer Eingriff mit enorm hoher Wachstumsrate: Gemäss der internationalen Gesellschaft für ästhetische und plastische Chirurgie liessen sich 2016 weltweit mehr als 138’000 Frauen die Schamlippen operieren. Das sind 45 Prozent mehr Operationen als noch 2015. Für die Schweiz existieren keine genauen Zahlen, Jürg Häcki spricht jedoch ebenfalls von einer wachsenden Nachfrage hierzulande. Mit seiner eigens entwickelten Operationstechnik führt er diesen Eingriff über 100 Mal pro Jahr durch.
Die Gründe
Worin also liegen die Gründe dafür? Dass immer mehr Frauen plötzlich unter vergrösserten Schamlippen und damit einhergehenden Schmerzen leiden, ist schliesslich kaum anzunehmen.
Eine gewisse Rolle spielen dürfte die wachsende sexuelle Selbstbestimmtheit der Frauen. Sie fordern heute resoluter ihren Spass beim Sex ein als früher und lassen sich vielleicht nicht mehr mit Sprüchen über «Melkfett» abspeisen, wenn sie dabei Schmerzen haben.
Ein weiterer Grund könnte die mediale Berichterstattung über dieses Thema sein: «Viele meiner Patientinnen kommen zu mir, nachdem sie in den Medien endlich einen Namen für ihr Leiden gefunden haben», so Dr. Häcki.
Den Hauptgrund verortet er jedoch ganz woanders – nämlich in der schwindenden Intimbehaarung von Frauen aller Altersgruppen. «Heute sind fast alle Frauen rasiert – nicht nur die Jungen. Und wenn über vergrösserten Schamlippen kein ‹Kissen› aus Haaren mehr liegt, dann sind diese sehr viel schmerzempfindlicher.»
Und ja, die leichte Zugänglichkeit von Pornografie sowie der generelle Jugend- und Schönheitswahn in unserer Gesellschaft haben wohl auch einen Einfluss auf das Selbstbild von uns Menschen - auch in Bezug auf den Intimbereich. «Nicht umsonst werden gewisse Operationen im Intimbereich im englischen Sprachraum auch ‹Vaginal Rejuvenation› – zu Deutsch: Vaginalverjüngung – genannt», so Dr. Scheiner.
Ästhetische Gründe – na und?
Ja, es gibt sie, die Frauen, die eine Schamlippenverkleinerung primär aus ästhetischen Gründen durchführen lassen. «Aber auch dann: was ist denn so falsch daran? Andere lassen sich die Brüste operieren, und damit hat auch niemand mehr ein Problem», meint Dr. Häcki. Ähnlich sieht das David Scheiner: «Früher stand ich dem Thema auch eher skeptisch gegenüber. Mittlerweile verstehe ich die Aufregung aber nicht mehr so ganz – Schönheitsoperationen sind einfach eine gesellschaftliche Realität.»
Die Risiken
Trotzdem: Aus rein ästhetischen Gründen würde Dr. Scheiner keine Schamlippenverkleinerung durchführen, sagt er. Eine solche Operation berge ja auch immer gewisse Risiken, das solle man nicht leichtfertig angehen. «Das machen aber sowieso nur die Wenigsten, eine Operation im Intimbereich ist für die Meisten nach wie vor etwas ‹Gfürchiges›.» Zudem müsse der Eingriff ja aus der eigenen Tasche bezahlt werden: Die Krankenkassen betrachten eine Schamlippenverkleinerung, im Gegensatz zur Beschneidung von Männern aufgrund einer Vorhautverengung, nämlich auch dann nicht als Pflichtleistung, wenn der Grund dafür Schmerzen sind. «Wenn eine Frau also wirklich Schmerzen hat – und diesen Eingriff selber bezahlt, wer bin ich dann, ihr zu sagen, sie dürfe sich nicht operieren lassen?»