Ich schreibe diesen Artikel aus persönlicher Sicht und erzähle, was hinter den Kulissen passierte – vor und nach dem wohl verstörendsten Interview, welches ich je geführt habe. Ich bin verantwortlicher Produzent für den Festivalsommer bei SRF. Im Normalfall bin ich weder vor der Kamera, noch führe ich Interviews. In diesem Fall kam aber alles anders als geplant.
Die Ausgangslage
Als wir erfahren haben, dass Yung Hurn kurzfristig für Action Bronson am Openair Frauenfeld einspringt, wussten wir, dass wir mit ihm unbedingt nochmals sprechen müssen: Nach dem verstörenden - und zugleich genialen - Interview von 2017 hatten wir noch viele Fragen, die wir ihm stellen wollten. Und die über eine Millionen Menschen, die unterdessen die Clips auf YouTube angeklickt haben, wahrscheinlich auch.
Unser Ziel war es, mit ihm über die Begegnung zu sprechen, die in der Netzgemeinde hohe Wellen geschlagen hat. Kann er sich überhaupt an das Interview erinnern? Hat er es gesehen? Welche Drogen waren im Spiel?
Am Tag seines Auftritts erfahren wir, dass der österreichische Rapper uns lieber kein Interview geben möchte. Später sehen wir ihn auf der Bühne mit einer riesigen Flasche Wodka. Wir machen bei den Verantwortlichen Druck. Wir wollen dieses Interview unbedingt. Und hecken gleichzeitig einen Plan B aus, falls Yung Hurn im Interview nicht auf unsere Idee eingehen möchte: Wir wiederholen das Interview von 2017 mit den exakt gleichen Fragen und schauen, was passiert.
Später sehen wir Yung Hurn im Publikum beim Konzert von Lil Uzi Vert. Er ist sichtlich gut gelaunt – noch immer mit der grossen Wodka-Flasche. An der Redaktionssitzung stellen wir mit Bedauern fest, dass unsere Pläne wohl nicht durchführbar sind. Es wäre auch zu schön gewesen – schliesslich gibt Yung Hurn so gut wie keine Interviews. Es war schon Glück genug, dass es mit dem Interview im letzten Jahr klappte.
Falsch gedacht. Plötzlich kommt Hektik auf. Vom Artist-Management des Openair Frauenfeld kommt die Meldung: Yung Hurn-Interview – jetzt! Die Redaktorin, welche das Interview vorbereitet hat, ist gerade beim Nachtessen. Also springe ich ein und renne mit dem Team in den Artist-Bereich. Die Artist-Managerin sagt uns, dass Yung Hurn nicht gut drauf ist und dass wir nur wenige Minuten Zeit haben.
Das Interview
Wir kommen in den Interview-Raum – der Kameramann, die Fotografin und ich. Vor uns sitzt Yung Hurn auf dem Sofa, umgeben von seiner Entourage. Die Stimmung ist schlecht, Yung Hurn wirkt, als ob er überhaupt keine Lust hätte. Da er so oder so eine Wundertüte ist, bin ich nervös. Ich habe keine Ahnung, was passiert. Ich frage ihn, ob er sich an das Gespräch vom letzten Jahr erinnern kann. Seine Antwort kommt postwendend: Nein. Also wechsle ich zu Plan B und ich beginne ihm die gleichen Fragen wie beim besagten Gespräch zu stellen.
Yung Hurn antwortet nicht und verlangt stattdessen eine Entschuldigung. Ich frage ihn, wofür er eine Entschuldigung möchte. Er wiederholt: «Kannst du dich bei mir entschuldigen?» Ich entschuldige mich. Er bittet mich, mich zu ihm zu setzen. Eine unangenehme Situation, weil ich eigentlich weder Interviews mache noch vor der Kamera stehe. Ich folge seiner Aufforderung trotzdem, weil mich die Situation sichtlich überfordert. Der Rapper nimmt meine Entschuldigung an. Es beginnt ein sehr wirres, unkontrolliertes Gespräch.
Nach rund zehn Minuten frage ich ihn, ob er sich wirklich nicht an unser Interview von damals erinnern kann. Er sagt nein. Und sagt im gleichen Atemzug, dass wir uns ja entschuldigt hätten. Dann umarmt er mich innig – der nächste sehr schräge Moment. Auch das lasse ich einfach passieren. Nach einer gefühlten zwei Minuten langen Umarmung verabschiedet sich Yung Hurn und geht aus dem Raum.
Die Analyse
Meine Crew und ich bleiben ratlos zurück. Wir schauen uns an und sind verwirrt. Was da eben passiert ist, scheint ähnlich wie letztes Jahr - aber einfach noch schlimmer. Wir diskutieren und sind uns einig: Yung Hurn spielt seine Rolle perfekt, ist intelligent und denkt viel schneller als man auf den ersten Blick meint. Er wollte mit uns spielen, weil wir sein Interview von 2017 ungeschnitten online gestellt haben, obwohl das damals nicht abgesprochen war. Deshalb wollte er die Entschuldigung. Und deshalb konnten wir ihn auch nochmals interviewen – denn wir waren die Einzigen, die mit ihm sprechen konnten. Er wollte den Spiess umdrehen und das ist ihm gelungen.
Warum wir dieses Interview mit Yung Hurn überhaupt publizieren? Weil es durchaus künstlerischen Wert hat und Yung Hurn schlussendlich so zeigt, wie man ihn bisher noch nie gesehen hat. Dass ich dabei der Spielball bin, nehme ich in Kauf. Schliesslich war es auch für mich ein nicht alltägliches Erlebnis. Deshalb stellen wir nun auch dieses Gespräch komplett ungeschnitten online.