Nauri mag ihre Arbeit nicht. Trotzdem schürft die Zehnjährige regelmässig mit anderen Leuten aus ihrem Dorf mitten im Wald nach Mica. «Der Berg bricht manchmal zusammen», erzählt das Mädchen, während sie mit ihrer zwei Jahre älteren Freundin Somi in einem Loch der Mine sitzt.
«Ihr Vater war mal drin, als alles einstürzte. Er hat sich wieder rausgekämpft.» Ab und zu träfen sie in der Mine auch auf Schlangen, vor denen sie wegrennen würden.
Tausende Kinder schuften in Minen
Indien ist einer der grössten Mica-Exporteure der Welt. Nauri und Somi sind zwei von Tausenden Kindern, die in den indischen Bundesstaaten Jharkhand und Bihar Mica sammeln. Die Hilfsorganisation Terre des Hommes schätzte ihre Zahl vor einigen Jahren auf rund 22'000.
Die Gegend ist besonders arm und gleichzeitig sehr reich an Mica. Die dortigen Mica-Minen befinden sich oft tief im Innern grosser Wälder, Schulen und Alternativjobs sind hier rar. So ist für viele Familien das glitzerne Material eine willkommene Einnahmequelle. Reich werden sie damit nicht.
Der 25 Jahre alte Mica-Sammler Anil Virhor sagt, er sammle rund 20 Kilo Mica am Tag und erhalte dafür 200 Rupien – etwa 2.20 Franken.
Die Arbeit in den Minen in den beiden Bundesstaaten ist, infolge eines indischen Waldschutzgesetzes, mittlerweile illegal. Deshalb, so sagt der Cousin eines Minen-Besitzers, müssten sie immer wieder Schmiergelder zahlen.
Mica boomt
Mica macht oft eine lange und nicht immer nachvollziehbare Reise durch viele Hände und mehrere Länder. Es ist schwierig nachzuprüfen, ob es von Kindern gesammelt wurde oder nicht.
Zwischenhändler Tridev Kumar sagt: «Ich habe praktisch keinen Kontakt zu den Leuten, denen ich das Mica verkaufe. Wir wägen das Material, und ich kriege das Geld. Aber ich denke, diese verkaufen es ebenfalls weiter.»
Mica lässt Produkte glitzern und isoliert Strom auch bei höchsten Temperaturen. Es gilt für die Haut als gesundheitlich unbedenklich und wird deshalb für Make-up, Zahnpasta und Shampoo verwendet.
Man findet es aber auch in Föhnen, Toastern, Computern und Handys, in Farbe, im Autolack und in Batterien, sowie bei Ölbohrungen als Füllmaterial für Bohrlöcher. Die Nachfrage dürfte laut Marktforschern in den kommenden Jahren weiter zunehmen.
Schweizer Firmen und ihre Verantwortung
Wie handeln Schweizer und internationale Firmen angesichts dieser schwierigen Situation? Einige Firmen, so zum Beispiel der Beauty-Konzern Lush, verzichten bewusst auf Mica und setzen auf Ersatzstoffe aus dem Labor.
Oder gewisse Firmen versuchen, natürliches Mica zu reduzieren – wie beispielsweise der Elektronik-Konzern Samsung auf Anfrage schreibt. Die Firma Colgate-Palmolive, zu denen die Zahnpasta-Marken Colgate und Elmex gehören, wollte auf Anfrage keine Antwort geben.
Ihrer Internetseite ist zu entnehmen, dass Mica unter anderem für die «Ästhetik des fertigen Produkts» dieser Zahnpasta verwendet wird. Mehrere Schweizer Firmen wie Migros, Coop, der Technologie-Konzern ABB und die Haushaltsgerätefirma Solis betonen auf Anfrage, dass ihre Lieferanten einem Verhaltenscodex unterliegen würden, der Kinderarbeit verbiete.
Aber überprüfen sie auch, ob sich die Lieferanten daranhalten? Von Solis hiess es: «Inwieweit unsere Partnerfabriken solche Anforderungen an ihre Zulieferanten stellen, können wir nicht zuverlässig überprüfen». Die ABB beantwortete diese Frage nicht, betonte aber, dass der Konzern Teil der Lieferketten-Initiative «Responsible Minerals Initiative» sei.
Migros und Coop teilten mit, dass ihre Lieferanten Mitglieder der Mica-spezifischen Initiative seien. Sie wurde 2017 gegründet; sie hat mehr als 80 Mitgliederfirmen.
Faire Arbeitsbedingungen
Das Ziel der «Responsible Mica Initiative» bis 2030: Lieferketten mit fairen Arbeitsbedingungen, die Kinderarbeit ausschliessen. Dazu möchte sie die Situation in den zwei grössten Mica-Exportnationen Indien und Madagaskar verbessern.
Indem die Initiative zum Beispiel Hilfsprojekte in der Nähe von Minen finanziert, welche Mitgliederfirmen beliefern. Die Initiative versucht auch, Regierungen davon zu überzeugen, den Mica-Abbau zu legalisieren.
Die Chefin der «Responsible Mica Initiative», Fanny Frémont, betont aber: «Die Initiative ist keine Zertifizierungsagentur. Mitglied sein, heisst nicht, dass deine Lieferkette frei von Kinderarbeit ist.»
Trotzdem plädiert sie dafür, weiter auf natürliches, statt synthetisches Mica oder andere Ersatzstoffe zu setzen. Um in den Mica-Dörfern in Indien und Madagaskar keine Krise auszulösen.
Im Kinderclub statt in der Mine
Wie weit ist die Initiative auf dem Weg zu ihrem Ziel? Eine engagierte Projektkoordinatorin einer Partnerhilfsorganisation, Payal Sinha, führt die Reporterin in Dörfer, wo Kinder nicht mehr in den Minen arbeiten. Hier bekommen einige Erwachsene alternative Einkommensmöglichkeiten, wenn sie versprechen, ihre Kinder nicht mehr zur Arbeit in die Minen zu schicken.
Zudem helfen sie den Erwachsenen, Sozialleistungen der Regierung zu erhalten. Und für Kinder und Jugendliche gibt es einen Kinderclub. Hier lernen sie, warum Kinderarbeit schlecht ist und sie können Aktivitäten nachgehen wie etwa Fussballturnieren und Theater.
Koordinatorin Sinha sieht aber auch Grenzen des Projekts und betont, dass sie mehr Geld brauchen würden, um mehr Dörfer zu erreichen. Im vergangenen Jahr betrug das Budget der Initiative 1,5 Millionen Euro, rund ein Drittel davon ging an Hilfsprojekte.
Lieferkettengesetz in der Pipeline
In der Schweiz ist es den Firmen selbst überlassen, ob sie sich für den Schutz der Menschenrechte und der Umwelt in ihren Lieferketten einsetzen oder nicht. Im Jahr 2020 wurde die sogenannte Konzernverantwortungsinitiative abgelehnt.
In der EU wird derzeit ein Lieferkettengesetz verhandelt. Sollten die Verhandlungen reibungsfrei verlaufen, könnte das Gesetz noch bis Ende dieses Jahres beschlossen werden.