Es ist kurz nach zehn Uhr morgens, an einem gewöhnlichen Wochentag Ende November: Kinder sollten um diese Zeit in der Schule sein. Aber der Gemüsemarkt in der nordlibanesischen Stadt Tripoli ist voll von Kindern im schulpflichtigen Alter, die dort arbeiten.
«Wir müssen arbeiten, weil wir kein Geld haben», sagen ein paar acht- bis elfjährige Knaben. «Manchmal zwölf Stunden am Tag, für ein paar Rappen!» Sie reden alle durcheinander, sind sich uneinig, wer von ihnen am längsten arbeitet.
Ich war noch klein, als ich mit der Arbeit auf dem Markt begonnen habe.
Der elfjährige Ahmad zeigt, was sie hier arbeiten: Sie laden Schachteln voller Gemüse von Lieferwagen auf Handkarren und schieben diese zu den umliegenden Läden. Eine anstrengende Arbeit, denn die Handkarren sind schwer. Ahmad weiss gar nicht mehr genau, wann er mit der Arbeit auf dem Markt begonnen hat. «Vor langer Zeit, als ich noch klein war», sagt der Junge.
Nach der dritten Klasse arbeiten statt lernen
Auch der 15-jährige Mohammed geht schon lange nicht mehr zur Schule. «Ich lernte, bis ich in der dritten Klasse die Schule verliess», sagt er. Seine Familie brauche jeden Rappen Einkommen, um überhaupt essen zu können. Deshalb habe sie ihn zum Arbeiten aus der Schule geholt.
Arbeitende Kinder sieht man in Libanon nicht nur im ohnehin schon verarmten Tripoli. Es ist auffallend, wie viele Kinder sich tagsüber, während der Schulzeiten, auf den Strassen aufhalten. Laut dem Kinderhilfswerk Unicef hat sich die Zahl der Kinder, die in Libanon nicht oder nicht mehr zur Schule gehen, allein zwischen April und Oktober 2021, versiebenfacht. Grund dafür: eine der weltweit schlimmsten Wirtschaftskrisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts.
Unicef sieht Ausbildung von 700'000 Kindern in Gefahr
Wegen der horrenden Inflation leben inzwischen acht von zehn Menschen in Libanon in Armut. Im kleinen Mittelmeerstaat leben zudem schätzungsweise anderthalb Millionen syrische Flüchtlinge. Sie sind vor Krieg, Verfolgung und der Wirtschaftsmisere in ihrem Land geflohen und sind noch mehr von Armut betroffen als Einheimische. Aber sowohl syrische als auch libanesische Kinder müssen die Schule immer häufiger verlassen, um irgendwie Geld zu verdienen.
Unicef schreibt in einem Bericht von Ende November: 700'000 Mädchen und Buben seien in Libanon mit einem Abbruch ihrer Schulbildung konfrontiert – schätzungsweise 440'000 Flüchtlingskinder und 260'000 schulpflichtige libanesische Kinder. Und das bei einer Gesamtbevölkerung von knapp sieben Millionen.
Das Kinderhilfswerk warnt eindringlich vor den Folgen einer verlorenen Generation. Denn Hilfe erreicht längst nicht alle Kinder und ihre Familien: Zu gross ist die Not in einem Land, das faktisch bankrott ist.
Handlungsunfähige Regierung
In den letzten beiden Jahren gab es in Libanon monatelang keine Regierung. Libanons neue Regierung unter Premier Najib Mikati – erst seit September vereidigt – ist handlungsunfähig. Politische Streitereien zwischen den verschiedenen konfessionellen Parteien haben dazu geführt, dass sich die Regierung seit zwei Monaten kaum zu Sitzungen getroffen hat.
Das libanesische Pfund hat gegenüber dem US-Dollar massiv an Wert verloren: Kostete ein US-Dollar 2019 noch 1500 libanesische Pfund, bezahlt man jetzt für einen Dollar 25'000 Pfund. Eine Besserung ist nicht in Sicht – auch nicht für die Kinder, die wegen der Not ihrer Familien arbeiten müssen, statt zur Schule zu gehen.
Jugendliche sehen keine Zukunft in Libanon
In Tripoli sagt ein älterer Mann, diese Kinder, die den ganzen Tag auf dem Gemüsemarkt schufteten, hätten keine Zukunft. Der 15-jährige Mohammed gibt ihm recht: Was sollen wir tun? Hier gibt es nichts, auch keine Zukunft.»
«Sie werden Gemüse herumkarren, bis sie sterben, wie alle hier», sagt der ältere Mann. «Ich kenne einen 65-Jährigen, der arbeitet noch immer hier», sagt der 15-jährige Mohammed.
Ein Schulabschluss würde mir hier gar nichts nützen, ich darf ja nicht einmal als Strassenwischer oder als Kellner arbeiten.
Immer mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene lassen ihre Arbeit auf dem Markt stehen und fangen an zu diskutieren. Die meisten sind Syrer, die vor dem Krieg in ihrer Heimat geflüchtet sind. Diesen verwehrt der libanesische Staat meist den Zugang zu öffentlichen Schulen und zum regulären Arbeitsmarkt.
«Ein Schulabschluss würde mir hier gar nichts nützen, ich darf ja nicht einmal als Strassenwischer oder als Kellner arbeiten», sagt ein junger Mann. Und mit der horrenden Inflation sei ohnehin kein Geld da für die Schule.
Arbeiten für nicht einmal einen Dollar pro Tag
Die Männer diskutieren offen über alles: über gescheiterte Fluchtversuche Richtung Europa, die Feindseligkeit und Korruption ihres Gastlandes – und über die Tatsache, warum sie so viele Kinder haben.
Kinderloser 40-Jähriger: «Auf den Strassen sind so viele Kinder: alle Syrer, und alle hungrig!»
Kleiner Junge: «Und du bist etwa kein Syrer?»
Kinderloser 40-Jähriger: «Doch!»
Kleiner Junge: «Dann red’ über dich, nicht über uns!»
Der kecke Junge heisst Ibrahim und ist elf. Er arbeitet auch auf dem Markt – aber als einziger geht er trotzdem noch zur Schule. «Wenn ich mit der Schule fertig bin, komme ich zum Markt und helfe meinem Vater. Das ist besser, als zu Hause herumzusitzen.»
Wenn ich mit der Schule fertig bin, komme ich zum Markt und helfe meinem Vater.
Ibrahim schreibt seinen Namen auf Arabisch auf, und einige der anderen Kinder tun es ihm gleich. Sie bedauern alle nur, dass sie nicht Englisch reden oder schreiben können. Denn auswandern ist ihr Traum – irgendwohin, wo das Leben besser ist.
Der elfjährige Ahmad nimmt das SRF-Mikrofon und posiert als Reporter. «In Libanon gibt es nichts. Keine Schulen. Wir karren Gemüse herum, für nicht einmal einen Dollar pro Tag», beginnt er seine Reportage. Die anderen Kinder feuern ihn an und lachen. Bis er das Mikrofon wieder abgibt und die Erwachsenen die Kinder wieder zur Arbeit rufen.