Libanon hat die höchste Inflation der Welt, fast 80 Prozent der Menschen sind arm. Grund dafür ist ein korruptes politisches System, in dem Politiker für sich und ihre Klientel, und nicht für einen Staat denken. Drei Porträts von Tripoli bis Beirut.
Der Kapitän von Tripoli
Ganz in der Nähe der Hafenpromenade der nordlibanesischen Hafenstadt gibt es ein kleines, unscheinbares Fussball-Clublokal. Gleich beim Eingang sitzt der 38-jährige Ahmad Hadad: zwischen Wasserpfeifen und vergilbten Zeitungsbildern, die an die Glanzzeiten seiner ehemaligen Mannschaft und an Lionel Messis goldene Jahre beim FC Barcelona erinnern.
Fussball spielt Ahmad schon lange nicht mehr. Er weiss kaum, wie er für seine drei Kinder sorgen soll.
Vor rund zwei Monaten rief Schiffsingenieur Ahmad seine Fussballfreunde ins kleine Clublokal: nicht, um über Fussball zu reden, sondern über seinen Plan, übers Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Als erfahrener Kapitän überzeugte er sie: Die Männer kratzten alles Geld zusammen, das sie und ihre Verwandten noch hatten und kauften zusammen ein Boot. Und zwar ein richtiges Boot – keinen See-untauglichen Schlepperkahn. Einem Schlepper würde sich Ahmad nie anvertrauen.
«Es war eine Touristenyacht: Mit GPS und Autopilot, die Leute brachten Lebensmittel und Wasser, wir hatten sogar Schwimmwesten und ein Rettungsboot», sagt Ahmad. Da die libanesische Armee den Auftrag hat, Bootsflüchtlinge aufzuhalten, mussten die Männer ihre Frauen, Kinder und Eltern – insgesamt 70 Personen – unauffällig an Bord bringen.
«Wir mieteten einen Jetski und transportierten die Passagiere einzeln aufs Boot. Damit wir nicht auffielen, mussten wir, wie Touristen, mit jedem ein paar Runden vor der Küste drehen», erzählt Ahmad.
Bei Sonnenuntergang waren sie startklar. Sie hatten bereits internationale Gewässer erreicht, da holte sie die libanesische Armee nach einer langen Verfolgungsjagd doch noch ein und rammte das Boot. Was Kapitän Ahmad mindestens so sehr bedauert wie den geplatzten Traum des Auswanderns.
«Es war eine grosse Tragödie: Das Boot sank und mit ihm alles, was wir hatten. Eine Frau hatte ihren ganzen Schmuck verkauft für diese Reise», sagt Ahmad. Nun liege das Boot auf Meeresgrund, nicht einmal die Einzelteile könnten sie jetzt bergen und verkaufen, um wenigstens etwas von ihrem verlorenen Geld zu retten.
«Wir haben alles riskiert für ein besseres Leben, aber wir sind gescheitert», sagt Ahmad, der alleine im kleinen Fussball-Clublokal sitzt. Für ihn ist die Niederlage besonders bitter: Als Captain trägt er dafür die Verantwortung.
Der Jugendliche ohne Zukunft
Der Mann, der uns nach einer mehrstündigen Suche zum 15-jährigen Abdul Rahman Haji führt, ist sichtbar krank. Zahed al Zahed ist Diabetiker, aber er findet in Tripoli kein Insulin. In ganz Libanon fehlen Medikamente, in der verarmten Hafenstadt Tripoli erst recht. Langsam schleppt sich der hagere Mittdreissiger die Treppe hoch zu seiner Wohnung. Seine Frau Zainab entschuldigt sich, dass sie keinen Tee anbieten kann: Das Gebäude habe höchstens nachts eine Stunde Strom, sagt sie.
Wenig später kommt der 15-jährige Abdul Rahman mit seinem Vater. Der Jugendliche scheint dünner und kleiner als beim Interview vor einem Jahr. Sein Vater klagt: «Der Hunger hat ihn krank gemacht, er wächst nicht mehr. Und eine medizinische Behandlung können wir uns nicht leisten.»
Sein Sohn Abdul Rahman – vor zwei Jahren ein energischer Wortführer der Antiregierungs-Demonstrationen in Tripoli - wirkt kraftlos. Das Essen sei so teuer geworden, Medikamente finde man keine. «Seit zwei Monaten schlafe ich nicht mehr daheim, sondern in den Bergen», sagt er. Ohne Strom für Ventilatoren sei die Hitze in den Wohnungen unerträglich. Oft hätten sie kein Wasser, schon gar kein sauberes.
Der Jugendliche geht seit zwei Jahren nicht mehr zur Schule; auch diese ist für seine Familie unerschwinglich. Er will nur eines: weg von hier.
«Hier gibt es nichts mehr und auch nichts mehr zu verlieren», sagt der 15-Jährige. Wenn er Szenen aus seinem Alltag beschreibt, sieht sein Gesicht aus wie das eines viel älteren Mannes. «Wir erschiessen einander an den Tankstellen, weil es kaum Benzin gibt, Menschen sterben da», sagt er. «Das Essen ist teuer, alles ist teuer, es gibt nichts Billiges.» Der 15-jährige Abdul Rahman fühlt sich von seinem Staat im Stich gelassen. Mit wachem Blick wartet er auf die nächste Frage: Hat er überhaupt noch Vertrauen – in irgendetwas?
«Es ist Jahre her, seit ich jemandem vertraute – ich habe kein Vertrauen mehr in gar nichts», sagt er. «Wie denn auch?», fragt er. In Libanon sind zehn Prozent reich, der Rest ist arm. Das ist die Situation hier. «Ein Sack Kartoffeln kostet nicht mehr 500, sondern 5000 Pfund. Was soll man da tun?»
Die Ärztin und die Pflegefachfrau
Das Rafik-Hariri-Universitätsspital liegt im Süden Beiruts in der Nähe des Flughafens. Es ist das grösste öffentliche Spital Libanons. Seit der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 haben rund 1000 Ärztinnen, Ärzte und Pflegefachleute Libanon verlassen. Ein Aderlass, den das wichtigste Spital des Landes besonders spürt.
Wer freiwillig bleibt, braucht viel Idealismus und Kraft. Schon der Arbeitsweg sei eine Nervenprobe, erzählt Dr. Layal Olaywan. Die 30-jährige Lungenärztin und Intensivmedizinerin ist soeben, mit Verspätung, im Spital angekommen. Sie musste drei Stunden anstehen, um ihr Auto zu betanken, weil es in Libanon kaum Benzin gibt.
«Auf der emotionalen und psychischen Ebene ist das Leben hier anstrengend. Und statt sinnlos drei, vier Stunden für Benzin anzustehen, würde ich die Zeit lieber nutzen, um Patienten zu behandeln», sagt die Ärztin.
Auch die 40-jährige leitende Pflegefachfrau Rawan Shehade hat oft Mühe, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. «Früher kam ich nie zu spät. Aber da wir jetzt oft keinen Strom haben, geht das elektrische Tor vor meinem Gebäude nicht auf, und ich muss warten, bis mich jemand herauslassen kann», sagt sie. Immerhin könne sie dann zu Fuss zur Arbeit. Einmal im Spital angekommen, machen sich die beiden Frauen mit viel Herzblut an die Arbeit.
«Ärztin war schon als Kind mein Traumberuf: Ich wollte etwas für die Gesellschaft tun, und das kann ich am besten als Ärztin», sagt Layal Olaywan. «Deshalb bleibe ich, trotz aller Schwierigkeiten. Wir arbeiten mit so wenig, aber ich habe Medizin studiert, weil ich meiner Familie und meinem Land helfen wollte, und das kann ich nur, wenn ich bleibe», sagt die Ärztin. Im Spital mangle es an fast allem, immer mehr auch an qualifiziertem Personal, sagt die Pflegefachfrau. «Es ist schwierig, wenn uns talentierte Kolleginnen und Ärzte verlassen.»
Auch Rawan Shehade hätte die Möglichkeit, ausserhalb Libanons Arbeit zu finden. «Wenn wir alle auswandern, wer kümmert sich dann um die Patienten?», fragt sie. «Mein Haus wurde von der Explosion letztes Jahr beschädigt, meine Kinder hatten Angst, aber ich zog meine Pflegeuniform an und kam sofort ins Spital.»
Auch jetzt befinde sich Libanon in einer Ausnahmesituation. Eine, die das medizinische Personal am Beiruter Universitätsspital immer mehr fordert. Strom- und Benzinmangel sind nur ein Problem. Als Lungenärztin behandelt Layal Olaywan auf der Intensivstation zurzeit vor allem schwerkranke Covid-Patienten. «Als Ärztin weisst du, welche Medikamente ihnen helfen würden, aber diese sind nicht erhältlich. Also verschreiben wir die zweit- oder drittbeste Behandlung. Wir können ja nicht einfach tatenlos zuschauen, wie sie sterben!», sagt die Ärztin.
Wer Verwandte im Ausland habe, müsse diese beauftragen, die nötigen Medikamente im Ausland zu beschaffen: Das raten die beiden Frauen ihren Patientinnen und Patienten. Das Spital telefoniere manchmal inländische Apotheken im ganzen Land ab, um für jemanden ein bestimmtes Medikament zu beschaffen. Und das, obwohl viele Patientinnen und Patienten gar kein Geld hätten.
Wie diese leidet auch das Spitalpersonal unter der Inflation und dem Zusammenbruch ihres Staates. Die Pflegefachfrau kann am Wochenende nicht mehr mit ihren Kindern aus der Stadt fahren, um sich zu erholen – weil kein Benzin da ist. Und auch die Ärztin Layal Olayan hat zuhause keinen Strom für einen kühlenden Ventilator gegen die Hitze.
«Wenn ich morgens schweissgebadet und unausgeschlafen aufwache, frage ich mich, warum ich hier bleibe.» Sie hoffe einfach, diese Krise habe bald einmal ein Ende. Aber die Ärztin will bleiben – genauso wie die Pflegefachfrau Rawan Shehade. «Meine Familie lebt hier, und auch dieses Spital ist meine Familie. Ich kann sie nicht verlassen», sagt sie und eilt wieder an die Arbeit.