Wer den Hafen von Beirut betreten will, braucht eine Sonderbewilligung. Ein Jahr nach der Explosion ist die Zone rund um den Krater immer noch Sperrgebiet. Berge von Metall und Abfall türmen sich – und erinnern an das, was am 4. August 2020 kurz nach 18 Uhr passiert hier ist. «Als wir nach der Explosion hergekommen sind, war es ein totales Chaos. Wir mussten den Weg mit Bulldozern freiräumen», erzählt Colonel Youssef Haidar von der libanesischen Armee. Das Militär hat die Aufräumarbeiten im Hafen koordiniert.
Eine menschgemachte Katastrophe
Die Explosion im Hafen von Beirut gilt als eine der grössten nicht-atomaren Explosionen der Geschichte. Die Katastrophe ist menschgemacht: Mehrere hundert Tonnen falsch gelagertes Ammoniumnitrat sind explodiert, weil sich niemand für die richtige Lagerung oder Entsorgung zuständig gefühlt hat. Die Folge: Ganze Wohnquartiere wurden zerstört, Existenzen ausgelöscht. Über 200 Menschen sind ums Leben gekommen, über 6000 wurden verletzt.
An vorderster Front gegen die Flammen gekämpft haben die Feuerwehrleute. Mehrere sind beim Einsatz ums Leben gekommen. So auch die Angehörigen von Karlen Hitti. Die junge Frau hat ihren Mann Charbel und zwei weitere Familienmitglieder verloren – alle Feuerwehrmänner. Stundenlang haben Karlen und ihre Familie vor einem Jahr im Hafen von Beirut nach ihren Liebsten gesucht – vergeblich.
Juristische Aufarbeitung stockt
Besonders schlimm für die Angehörigen ist: Die juristische Aufarbeitung stockt, bisher wurde noch niemand verurteilt. Hochrangige Personen versuchen die Untersuchung auszubremsen, Politiker verstecken sich hinter ihrer parlamentarischen Immunität. Bekannt ist, dass etliche Personen vom gefährlichen Material im Hafen Kenntnis hatten und von der Gefahr, die davon ausgegangen ist. «Was uns wirklich wehtut ist: Einige Leute wussten von dem Ammoniumnitrat», erzählt Tanios Karam, Karlens Schwiegervater. «Sie haben unsere Kinder wissentlich in den Tod geschickt.»
Wir werden keine Ruhe geben. Die Verantwortlichen können nicht ihr Leben weiterleben, während wir jeden Tag leiden, weil wir unsere Liebsten verloren haben.
Vor dem Haus hat die Familie eine Gedenkstätte eingerichtet. Ihre Angehörigen sollen nicht in Vergessenheit geraten. Schlimmer als der Tod der drei sei, dass sich niemand wirklich um die Aufarbeitung kümmere, erzählt Karlen Hitti. «Aber wir werden keine Ruhe geben. Die Verantwortlichen können nicht ihr Leben weiterleben, während wir jeden Tag leiden, weil wir unsere Liebsten verloren haben.»
Die Angehörigen der Opferfamilien haben der Politik ein Ultimatum gestellt, die Immunität der Parlamentarier aufzuheben. Bis jetzt ohne Erfolg. Auch ein Jahr nach der Explosion bleiben viele Fragen unbeantwortet. Der Jahrestag wird für viele Angehörige kein einfacher Tag sein – auch nicht für Karlen Hitti: «Alle sagen, nach einem Jahr wird die Traurigkeit kleiner. Aber das stimmt nicht, im Gegenteil: Unsere Trauer wird mit jedem Tag grösser. Unsere Wut wird grösser. Jeder Tag ist schlimmer als derjenige zuvor.»