In Beirut hat sich vor zwei Tagen eine verheerende Explosion ereignet, die wahrscheinlich von grossen Mengen Ammoniumnitrat verursacht wurde. Nach aktuellem Kenntnisstand wurden mehr als 130 Menschen getötet, rund 5000 wurden verletzt und Hunderttausende verloren ihre Wohnung. Heiko Wimmen, Vertreter einer NGO, lebt normalerweise in Libanon und berichtet, wie es seinem Umfeld ergangen ist.
SRF News: Was bedeutet diese Katastrophe für den Staat Libanon?
Heiko Wimmer: Es ist nun der dritte Schlag innerhalb von zehn Monaten. Der Staat ist seit letztem Herbst bankrott. Das hat zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und zur Hyperinflation geführt. Dann kam das Coronavirus, das der Wirtschaft im März einen weiteren Schlag versetzt hat. Deshalb ist die Tourismus-Sommersaison ausgefallen und damit brechen wichtige Deviseneinnahmen weg. Es gibt schon jetzt stundenlange Stromsperren jeden Tag. Nun kommt noch die Explosion dazu. Drei Spitäler und der Hafen sind zerstört worden.
Was haben Ihnen Ihre Kontakte aus Beirut erzählt?
Eine Bekannte lebt drei Kilometer Luftlinie vom Explosionsort entfernt. Durch die Detonation ist eine Balkontür, die 100 oder 150 Kilo schwer sein dürfte, quer durchs Wohnzimmer geflogen. Ein Kollege von mir wohnt noch näher am Unglücksort; seine Wohnung ist vollständig zerstört. Es trifft auch Tausende von Familien, die Angehörige oder nahestehende Personen verloren haben oder noch vermissen.
Wegen der Zerstörung des Hafens wird es Probleme geben, Lebensmittel und essenzielle Dinge des täglichen Bedarfs zu importieren.
Hunderttausende wurden auf einen Schlag obdachlos. Droht nun eine Massenarmut?
Die Weltbank hat schon im letzten Herbst mehrfach gewarnt, dass die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze fallen wird. Das geht nun noch schneller. Der Staat kann Gehälter nur noch zahlen, indem er Geld druckt. Immer mehr Unternehmen in der privaten Wirtschaft gehen bankrott. Die Leute verlieren ihr Einkommen ganz oder teilweise. Massenarmut steht da sicherlich bevor. Wegen der Zerstörung des Hafens wird es Probleme geben, Lebensmittel und essenzielle Dinge des täglichen Bedarfs zu importieren. Da ist jetzt ein grosser Bedarf an humanitärer Hilfe.
Die drei Krankenhäuser, die beschädigt sind, sind nicht in einem Zustand, in dem sie benutzt werden können.
Was braucht das Land am dringendsten?
Am dringendsten ist sicherlich medizinische Hilfe, sprich Unterstützung bei der medizinischen Ausrüstung. Nahe der Explosionsstelle gab es ein grosses Lager, wo derartige Ausrüstung gelagert wurde, unter anderem auch die Beatmungsgeräte für Corona Patienten. Die drei Krankenhäuser, die beschädigt sind, sind nicht in einem Zustand, in dem sie benutzt werden können.
Die Hinweise verdichten sich, dass schlecht gelagertes Düngemittel an der Explosion schuld ist. Schlamperei und Korruption waren offenbar die Gründe. Ist dies das Ende für die politische Elite im Land?
Ohne Schlamperei und Missmanagement wäre dieses Ammoniumnitrat nicht sieben Jahre liegen geblieben. Inwieweit Korruption genau eine Rolle gespielt hat, kann man zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Aber richtig ist, dass auf allen Ebenen des libanesischen Staates Korruption und Missmanagement Probleme sind. Dadurch wurde die politische Protestbewegung letztes Jahr hervorgerufen. Diese Katastrophe ist ein weiterer Beweis – wenn es den noch gebraucht hätte – dass die Institutionen des libanesischen Staates nicht funktionsfähig sind. Dass das viel mit den politischen Eliten zu tun hat, ist klar. Ob es die Protestbewegungen neu anstacheln wird, ist schwer vorherzusagen.
Das Gespräch führte Janis Fahrländer.