«Ziel Ihrer Reise?», fragt mich der Zollbeamte, freundlich, aber kritisch blickend. «Skifahren, und ein wenig arbeiten», sage ich – hoffend, dass es jetzt nicht wieder stundenlange Abklärungen gibt, wie bei früheren Einreisen nach Russland. «Viel Vergnügen!» Der Empfang im Kaukasus, am Flughafen Sotschi, ist erfreulich freundlich. Und das mit dem Skifahren an sich auch richtig.
Denn wir beginnen unsere Reise im mondänsten Skigebiet Russlands. Genau vor zehn Jahren hatte sich hier die Welt versammelt anlässlich der Olympischen Winterspiele.
Böse Zungen sagen: Es sei das letzte Mal gewesen, dass sich Russland noch freundlich und vor allem friedlich gezeigt habe.
Wie steht die russische Bevölkerung zum Krieg?
Der ideale Ausgangspunkt für eine Reise durch das heutige Russland, das in grossem Tempo vom Westen weg driftet und einen Angriffskrieg gegen den Nachbarn führt. Was denken die Menschen hier über den Krieg?
Dieser Frage möchte ich nachgehen: im Kaukasus, in Moskau und dann in Karelien an der Grenze zu Finnland. Mit dem notwendigen Fingerspitzengefühl. Wissend, dass es für Russinnen und Russen inzwischen gefährlich ist, diesen Krieg zu kritisieren.
Treffen mit einem alten Bekannten
Mein erster Gesprächspartner in Sotschi ist Pjotr Fedin. Einer der Tourismus-Promoter in der Region von Krasnaja Poljana – dem Winterskigebiet von Sotschi. Ihn hatte ich schon kennengelernt, bevor Russland die Zusage für die Olympischen Spiele erhielt. Im Jahre 2007.
Es waren die beschaulichen und irgendwie auch romantischen Zeiten des Gebietes. Fedin stand den grossen Entwicklungsplänen der Regierung kritisch gegenüber. «Die Berge lieben keine schnellen Schritte», pflegte er zu sagen, und dass man den Ort nachhaltig und im Einklang mit der Natur aufbauen solle.
Die Ideen für die Entwicklung des Skigebietes habe er sich im Westen geholt, in Europa und Nordamerika, auch in der Schweiz. Als dann klar wurde, dass Sotschi die Spiele durchführen darf, zogen hier die grossen Staatsfirmen ein und klotzten.
Rückblickend hat sich auch Unternehmer Fedin mit der Situation arrangiert. Für 15 Millionen Franken hat er einen Skypark gebaut, der sehr gut laufe. «Ich habe gut verdient.»
«Russland, die Ukraine und Belarus sind ein Volk»
Ich bin gespannt, welche Meinung Fedin zu der – wie man in Russland sagt – militärischen Spezialoperation in der Ukraine hat. Zumal seine Tochter in den USA verheiratet und er dort regelmässig zu Besuch ist. Es stellt sich heraus: Fedin steht offenbar hinter der Spezialoperation.
Um gewisse Dinge zu erreichen, muss man manchmal Blut vergiessen.
«Russland, die Ukraine und Belarus sind ein Volk», meint er, die Teilung am Ende der Sowjetunion sei künstlich gewesen. Den Hinweis, dass Russland die Grenzen der Ukraine mehrmals vertraglich garantiert habe, wischt er vom Tisch: «Das war ein grosser Fehler.» Und um gewisse Dinge zu erreichen, «muss man manchmal Blut vergiessen». Das sei in der Geschichte immer so gewesen.
Nach solchen Aussagen bin ich konsterniert. Ein erfolgreicher Unternehmer, der selbst oft im Westen ist, unterstützt Putins Angriffskrieg in der Ukraine.
Und im Falle von Fedin ist es sogar so, dass sein Neffe freiwillig an der Front in der Ukraine ist. Er habe es seinen Vorfahren gleich tun wollen, habe der Neffe gesagt. Mit diesem Gespräch verabschiede ich mich und reise weiter nach Moskau.
Sehnsucht nach vergangenen Zeiten
Es gibt viele Erklärungsversuche, warum Menschen in Russland diesen Angriffskrieg unterstützen: die Sehnsucht nach dem historischen Gross-Russland; Chauvinismus, Opportunismus, Kollektivdenken.
In unseren Menschen ist die Angst tief verwurzelt. Angst vor den Mächtigen, vor Repressionen. Angst, die Arbeit oder sogar die Familie zu verlieren.
Manche sprechen von Kränkungen, weil die Sowjetunion auseinandergefallen war und die 90er-Jahre schwere Krisen mit sich brachten. Propaganda und Desinformation tragen viel dazu bei. «Es ist die Angst», sagt Tatjana Jaschina, die Mutter des inhaftierten russischen Oppositionellen und Kriegskritikers Ilja Jaschin.
Und ihr Mann Walerij fügt an: «In unseren Menschen ist die Angst tief verwurzelt. Angst vor den Mächtigen, vor Repressionen. Angst, die Arbeit oder sogar die Familie zu verlieren. Diese Angst sitzt tief und fest in unseren Menschen. Leider. Das heisst aber nicht, dass wir schlechte Menschen sind.»
Ich treffe das Paar in Moskau. Am Vortag waren sie von einem Gefängnisbesuch bei ihrem Sohn in der Region Smolensk zurückgekehrt. Jaschin hatte nach dem Kriegsbeginn auf seinem Youtube-Kanal die sogenannte Spezialoperation klar als Krieg bezeichnet und diese heftig kritisiert.
Es war nach Kriegsbeginn im Februar 2022 eigentlich klar, dass er so nicht lange in Freiheit bleiben würde. Trotzdem hat er Russland nicht verlassen. «Mein Sohn sagt, er könne sich selbst nicht in einem anderen Land vorstellen. Er liebe sein Land und wolle hier leben. Man müsse für seine Überzeugungen einstehen», so Tatjana Jaschina. Seine Haftstrafe dauert 8.5 Jahre.
Auch in der Familie ist man sich häufig uneinig
Nicht gegen, sondern aktiv für den Krieg sind Frauen und Männer, die wir im Dorf Swjatosero getroffen haben, in der nordrussischen Republik Karelien, an der Grenze zu Finnland. Einmal wöchentlich versammeln sie sich hier, um Tarnnetze für die Fliegerabwehr herzustellen.
Und vor allem die Frauen stricken und nähen alles, was an der Front gebraucht wird: Bettwäsche, Mützen, Strümpfe oder Unterhosen. Rund 650 Einwohner hat das Dorf. Neun Männer von hier seien an der Front.
Es gehe ihnen aber nicht nur darum, die eigenen Jungs an der Front zu unterstützen, sagen die älteren Leute im Gespräch. Ihr Ziel sei der Sieg. Wie genau der aussehen soll, respektive wo die Grenzen liegen, darüber sind sie sich nicht ganz einig.
Abseits der Kamera sagen sie noch: Es gebe auch in ihren Familien teils heftige Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der «Spezialoperation».
Russische Opposition gegen den Krieg noch nicht komplett versiegt
Klar und aktiv gegen den Krieg ist das Ehepaar Oxana Ossadtschaja und Walerij Remisow, beide von Geburt an blind. Sie stellen sich mit Antikriegsparolen auf die Strasse, manchmal direkt vor den Kreml. Oxana wurde schon mehrmals gebüsst.
So viele Kinder, die jetzt Halbwaisen oder Waisen sind. Verletzte und Tote bei den Explosionen. Soldaten auf beiden Seiten, die traumatisiert heimkehren.
Ihre Hoffnung ist, dass sie als Sehbehinderte nicht zu Gefängnisstrafen verurteilt werden. «Garantie dafür gibt es keine.» Es ist die leise Hoffnung, dass solche Aktionen etwas bringen. «Ich möchte, dass es bei uns weniger Gleichgültigkeit gibt. Das wird helfen, wenn wir eines Tages die Chance auf eine normale Entwicklung unseres Landes haben», sagt Oxana.
Und dann ist da das tiefe Mitgefühl für die Menschen in der Ukraine: «So viele Kinder, die jetzt Halbwaisen oder Waisen sind. Verletzte und Tote bei den Explosionen. Soldaten, auf beiden Seiten, die traumatisiert heimkehren. Dabei könnten wir doch zusammen so viel erreichen. Die Medizin, Wissenschaft und Technologie weiterentwickeln, damit die Menschen besser leben.»
Das Gespräch mit dem Paar verändert meine Perspektive auf diese Reise und zeigt mir etwas Wesentliches auf: So düster die Perspektiven sein mögen, bleibt doch das Wissen, dass auf jede noch so finstere Nacht auch immer eine Morgendämmerung folgt.