«Ich verspürte einen Hass auf alles: das Land, die Politik, die Familie und auch mich selbst», erinnert sich Damir an die Zeit nach seiner Flucht aus Bosnien in die Schweiz.
Das Schuldgefühl, nicht mehr gegen die Ungerechtigkeit des Krieges unternommen zu haben, war die Ursache für Damirs Hass auf sich selbst.
Trauma heilen: der Weg mit Tantra
Die Vertreibung aus dem eigenen Land, das Auseinanderbrechen von Familien und das Zurücklassen geliebter Menschen kann Emotionen wie Hass und Verzweiflung schüren. Damir beschreibt das Gefühl all dieser Verluste durch den Krieg als einen innerlichen Tod.
In Bosnien hatte er sich das erste Mal mit 13 Jahren verliebt. Aufgrund des Krieges mussten er und seine Familie flüchten – und er musste so seine erste grosse Liebe zurücklassen. Zeit für einen Abschied blieb keine. Trotz Suche über soziale Medien und Bekannte fand er das einstige Mädchen nicht mehr wieder.
Durch Tantra habe Damir gelernt, Hass in Liebe umzuwandeln, wie er sagt. In seinen eigenen Kursen möchte er diesen Ansatz weitergeben und so den Menschen helfen, ihren inneren Frieden zu finden.
Liebe und Hass aus der Tantra-Perspektive
Die tantrische Sichtweise betrachtet Liebe und Hass nicht als komplett gegensätzlich, sondern eher als Teil eines breiteren Spektrums menschlicher Gefühle. Gemäss dieser Sichtweise wird argumentiert, dass Selbstliebe und das gezielte Entwickeln von Mitgefühl einen Weg zur Umwandlung von Hass ermöglichen können.
Hierbei spiele die innere Arbeit eine wichtige Rolle, die durch Praktiken wie Meditation und Achtsamkeit erfolgt. Ziel sei es, negative Emotionen wie Hass zu erkennen und durch positive Gefühle wie Liebe zu ersetzen.
In diesem spezifischen Kurs von Damir beschäftigt sich die Gruppe mit den verschiedenen Emotionen innerhalb einer Familie – es geht auch um Hass.
Als Einstieg für die Übung tanzt die Gruppe zuerst frei zu einer Handtrommel, bevor sie dann gemeinsam auf dem Boden liegen und sich jeweils zu zweit austauschen. «Alles loslassen – hier wollen wir frei sein», motiviert Damir die Teilnehmer und Teilnehmerinnen.
Die Wirkung von Hass: Sucht und Selbstschutz
Weiter erklärt er, dass der Hass immer wieder auftaucht, wenn man sich nicht mit seinen Gefühlen auseinandersetzt und so die Kontrolle über die Emotionen übernimmt.
Nach dem gemeinsamen Austausch findet sich die Gruppe im Kreis wieder zusammen und es werden die verschiedenen Interpretationen von Hass geteilt. Er wird beschrieben als ein Akt des Selbstschutzes, eine Form von auf den Kopf gestellter Liebe oder ein Zustand, der süchtig machen kann.
Dies sei auch mitunter ein Grund, warum es vielen Menschen schwerfalle, den Hass gehen zu lassen, ergänzt der 45-Jährige. Doch genau das ist das Ziel des Kurses: ihn loszulassen und in Liebe zu verwandeln.
In der nächsten Übung geht es darum, Gefühle wie Hass auszusprechen und so in gewisser Hinsicht loslassen zu können. Es heisst, wenn dieser Schritt gelingt, soll es möglich sein, den Hass nicht mehr auf andere zu projizieren.
Emotionen freisetzen und versöhnen im Rollenspiel
Die Teilnehmenden nehmen hierzu in Dreiergruppen verschiedene Familienrollen ein.
Ziel ist es, Konflikte aus der Vergangenheit nochmals zu durchleben und diese gezielt adressieren zu können. Eine Szenerie besteht aus Mutter, Vater und Sohn.
Du hast mit deinem emotionalen Missbrauch meine sexuelle Liebesfähigkeit verletzt!
Die Person in der Rolle des Sohnes teilt ihre Erinnerungen und Gefühle mit den anderen beiden Gruppenmitgliedern, welche die Eltern verkörpern.
Zur «Mutter» gerichtet sagt er: «Es war nicht in Ordnung, dass du mich geschlagen hast.» Danach listet er weitere schmerzhafte Rückblicke auf. «Du hast mit deinem emotionalen Missbrauch meine sexuelle Liebesfähigkeit verletzt!» Bei allen drei Teilnehmenden fliessen die Tränen.
Es geht in diesem Fall darum, Wut zeigen zu dürfen, Emotionen herauslassen, Hass aussprechen und loslassen zu können. Die Teilnehmenden, in der Rolle der Eltern, hören zu und reagieren auf das Gesagte, indem der Vater sich entschuldigt und die Mutter sagt, dass sie stolz auf den Sohn sei. Zum Schluss kommt es zu einer Versöhnung.
Wut oder Hass?
Laut dem Psychiater Georg Juckel sind Wut und Hass ähnliche Emotionen, die oft aus persönlichen Verletzungen oder Enttäuschungen entstehen. Wut ist oft eine kurzfristige Reaktion, während Hass tiefergehend und lang anhaltend sein kann.
Hass ist nur ein Symptom und keine psychische Störung, meint Georg Juckel. Es sei aber wichtig, diese Emotionen zu erkennen und konstruktiv damit umzugehen, um negative Auswirkungen zu minimieren. «In seiner stärksten Form kann Selbsthass in Selbstverletzung und suizidale Impulse umschlagen», warnt der Psychiater.
Durch Selbstreflexion und emotionale Regulation können sie besser verstanden und kontrolliert werden. Professionelle Hilfe sollte in Anspruch genommen werden, wenn diese Emotionen schwerwiegende Probleme verursachen.
Wut ist ein weitverbreitetes und oft unterschätztes Gefühl, das in verschiedenen Lebensbereichen auftreten kann. In solchen Momenten arbeitet das Gehirn im Stressmodus, was zu ungewollten Reaktionen führen kann. Wut entsteht aus dem Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit, kann aber langfristig gesundheitsschädlich sein, meint Psychologin und Psychotherapeutin Sandra Figlioli-Hofstetter im SRF-Gesundheitsratgeber.
Emotionsarbeit in der Traumatherapie
Damir will zeigen, dass selbst tiefgreifende Traumata durch gezielte Emotionsarbeit überwunden werden können. Er versucht, diese Erfahrung an seine Kursteilnehmenden weiterzugeben.
Tantra ist für ihn dabei exemplarisch für die Transformation negativer Gefühle in positive Energie – wie auch sein Selbsthass, den er in Liebe transformieren konnte.
Damir ist überzeugt: Durch Techniken wie Meditation und Rollenspiele können Menschen lernen, ihre Emotionen zu erkennen, auszudrücken und zu verarbeiten. Diese Techniken können ein Weg zur emotionalen Heilung sein, sollten jedoch als Teil eines umfassenden Ansatzes zur Traumabewältigung gesehen werden.