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Objektophilie «Ich möchte einfach nur akzeptiert werden mit meiner Liebe»

Regina ist verliebt in Fahrleitungen von Bahn, Bus und Tram. Die seltene Liebesform heisst Objektophilie. Betroffene empfinden tiefe romantische Gefühle zu «leblosen» Objekten und führen Liebesbeziehungen mit ihnen. Wie funktioniert eine solche Liebesbeziehung?

«Ich bin nicht falsch. Ich bin anders, aber ich bin okay.» Regina hat gelernt, sich und ihre spezielle Form der Liebe anzunehmen. Das war ein langer und schwieriger Weg.

Mit elf Jahren hat sie sich auf einer Zugreise in Stromleitungen verliebt. Seit diesem Tag hat sie tiefe romantische Gefühle für Oberleitungen von Bahn, Bus und Tram.

Oberleitungen sind Reginas grosse Liebe

Regina arbeitet als Fachkraft in der Gastronomie. Ihre Mittagspausen verbringt die 42-Jährige, wenn möglich, bei ihrem Schatz, den Fahrleitungen der örtlichen S-Bahn: «Ich merke, wie sie mit mir flirtet. In ihrer Nähe spüre ich ein Kribbeln im ganzen Körper und werde rot», so Regina.

Objektophile Menschen fühlen sich nicht vom menschlichen Körperschema, sondern von individuellen Eigenschaften bestimmter «lebloser» Objekte angezogen. Diese Gegenstände stehen dabei mehr oder weniger als eigenständige Liebespartner anstelle von Menschen.

Für Regina sind Oberleitungssysteme sogenannte Objektwesen, die Gefühle und ein eigenes Innenleben haben.

Objektophilie oder Fetisch?

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Objektophilie wird oft fälschlicherweise mit sexuellem Fetisch verwechselt oder gleichgesetzt.

Ein sexueller Fetisch ist eine Vorliebe, bei der bestimmte Gegenstände, Körperteile, Materialien oder Handlungen sexuelle Erregung auslösen. Oft kann erotische Lust nur noch in Zusammenhang mit diesem Gegenstand erlebt werden. Beispiele hierfür sind Leder, Füsse oder Rollenspiele.

Sexuelle Fetische sind eine Form von Paraphilien – sogenannten Störungen der sexuellen Neigung. Jedoch nur, wenn die betroffene Person darunter leidet oder anderen Personen schadet oder schaden könnte.

Die sexuelle Anziehung zu einem Objekt kann Teil einer Objektophilie sein. Im Gegensatz zu einem sexuellen Fetisch beinhaltet Objektophilie jedoch tiefe romantische Liebesgefühle.

Am liebsten würde sie die Strommasten entlang der Gleise umarmen. «Wenn ich sie anfasse und mich an sie lehne, spüre ich Wärme und Geborgenheit. Ich bin dann getragen von ihnen, sicher.» Regina hat gelernt, dieses körperliche Verlangen zu unterdrücken. Zu verletzend waren die verurteilenden Kommentare aus ihrem Umfeld und von Passantinnen und Passanten.

Erst nach der Dämmerung besucht sie regelmässig einen Fahrleitungsmast. Dort kann sie ihrem Schatz nahe sein, versteckt hinter einem Gebüsch.

Bild der Oberleitungen beim Bahnhof SBB in Basel.
Legende: Die Oberleitungen des Zugnetzwerks lassen Reginas Herz höherschlagen. SRF

Objektliebende Menschen beschreiben ihre Beziehung und Interaktion mit den Gegenständen ganz unterschiedlich.

Für manche hat das Objekt ein Geschlecht, für andere nicht. Manche lieben denselben Gegenstand über eine lange Zeit, andere verlieben sich ständig neu und führen mehrere Beziehungen zu verschiedenen Objekten gleichzeitig.

In den meisten Fällen gestaltet sich die Interaktion einseitig und nonverbal durch Berührungen oder Gespräche mit dem Objekt. Sexuelle Intimitäten mit den Gegenständen reichen von platonisch bis erotisch.

Wie liebe ich?

Regina hat lange nicht verstanden, wieso sie keine sexuelle und romantische Anziehung zu Menschen verspürt. Erst als Erwachsene hat sie von Objektophilie erfahren. Plötzlich machte alles Sinn.

Verliebt in den Eiffelturm

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Objektophilie erlangte in den 90er-Jahren mediale Aufmerksamkeit, vor allem durch zwei Frauen, die öffentlich über ihre besonderen Liebespartner sprachen.

Erika Eiffel ist die bekannteste von ihnen. 2007 heiratete sie in einer privaten Zeremonie den Eiffelturm. Ein weiterer bekannter Fall ist Eija-Riitta Eklöf-Berliner-Mauer, die sich in die Berliner Mauer verliebte.

Im deutschsprachigen Raum sprach erstmals 2002 eine objektliebende Person öffentlich über ihre Gefühle: Der Deutsche Oliver Joachim bekannte sich in verschiedenen Talkshows zu seiner Liebe zu Lokomotiven und Instrumenten.

Mit seinem Coming-out wollte er andere Menschen finden, die ähnlich empfinden. Dafür gründete er ein Onlineforum für Objektophilie.

Seitdem bekannten sich weitere Menschen zu ihren unterschiedlichsten Liebespartnern: Häuser, Laptops, Flugzeuge, Zäune, Kräne, Schwerter, Router oder Dächer. Die Gemeinsamkeit dieser Objekte ist ihre klare und wesenhafte Linienführung.

Endlich konnte Regina ihre Gefühle gegenüber Oberleitungen als das einordnen, was sie für sie sind: echte Liebe. Über ein Onlineforum hat sie andere objektophile Menschen kennengelernt. «Da wurde mir klar, ich bin nicht die Einzige, die so fühlt. Endlich habe ich Menschen gefunden, die sind wie ich. Unter ihnen bin ich normal. Da gehöre ich dazu.»

Reginas traumatische Kindheit

Reginas Kindheit war alles andere als schön und behütet. Sie wurde als Kleinkind vernachlässigt und geschlagen. «Ich war tagelang in dunklen Räumen eingesperrt. Hätte mich meine Oma nicht ab und zu in ihre Wohnung genommen und umsorgt, wäre ich heute nicht mehr da.»

Objektliebe ist menschlich. Nur weil etwas selten vorkommt, heisst das nicht, dass es krankhaft ist.
Autor: Werner Huwiler Sexualtherapeut

Mit vier Jahren kam sie in die Obhut eines Kinderheims. «Ich habe meine Mutter als bösen Menschen in Erinnerung, sie war kälter als jeder Gegenstand.» Weil auch andere objektliebende Menschen von frühkindlichen Traumata erzählen, liegt die Vermutung nahe, dass diese Ereignisse der Grund für die etwas andere Liebesform sind.

Objektophilie ist keine psychische Störung

«Eine frühkindliche Traumatisierung kann eine mögliche Ursache für Objektophilie sein, ist aber weitestgehend nicht ausreichend. Sonst hätten viel mehr Menschen diese Neigung.» Die klinische Psychologin Melanie Pek-Weixler ist eine der wenigen Psychologinnen, die sich beruflich mit dem Thema Objektophilie befasst haben.

Regina sitzt im Zug und lächelt und betrachtet die Oberleitungen.
Legende: Für Regina spielt es keine Rolle, wieso sie anders liebt. SRF

Sie erklärt, dass Objektophilie weder eine psychische Störung noch eine Paraphilie ist. Das hat vor allem einen Grund: Betroffene leiden meist nicht unter Objektophilie.

Ojektophilie, Autismus und Synästhesie

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Amy Marsh war die erste Psychologin, die im Feld der Objektophilie forschte. Ihre Studie mit 21 Personen, die eine Objektliebe aufweisen, zeigte, dass sich fast die Hälfte der Teilnehmenden im Autismus-Spektrum befanden.

Menschen mit Autismus haben oft besondere neurologische Merkmale, wie eine ausgeprägte Fähigkeit zur Fokussierung auf Details und eine intensive Bindung zu bestimmten Objekten. Das kann zu einer tiefen emotionalen Verbindung führen.

Eine Studie von Sinmer, Hughes und Sagiv aus dem Jahr 2019 bestätigte einen partiellen Zusammenhang zwischen Autismus und Objektophilie. Zudem zeigte die Untersuchung, dass viele Studienteilnehmende Synästhesie hatten.

Synästhesie ist eine Form der Neurodivergenz, bei der verschiedene Gehirnareale auf einzigartige Weise verbunden sind. Verschieden Sinne werden miteinander verbunden, sodass zum Beispiel eine Farbe mit einem Geruch wahrgenommen wird oder Töne als Form gesehen werden.

Bei einer Objekt-Personen-Synästhesie werden Objekte als lebendig erlebt. Zum Beispiel wird ein Hausschlüssel als weiblich oder die Taschenuhren als schüchtern erlebt.

Pek-Weixler sieht Objektophilie als seltenes Phänomen, das vermutlich durch ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren hervorgerufen wird. Ein möglicher Hintergrund sind die beiden Neurodivergenzen Autismus und Synästhesie.

Objektophilie ist menschlich

«Objektliebe ist menschlich. Nur weil etwas selten vorkommt, heisst das nicht, dass es krankhaft ist.» Was viele für psychisch krank halten, sieht der Sexualtherapeut Werner Huwiler im Spektrum des Normalen: «Ich denke, die meisten Menschen wären fähig, Objekte zu lieben. Viele kennen es aus der Kindheit. Da ist es ganz normal, seinen Teddybären zu lieben. Wir sind fähig, auf verschiedensten Ebenen Liebe zu spüren.»

Werner Huwiler hat in seiner Praxis immer wieder objektliebende Menschen. Diese leiden nicht direkt unter Objektophilie – Betroffene berichten oft, sie seien glücklich mit ihrer Form der Liebe.

Der Leidensdruck entsteht, weil diese öffentlich nicht akzeptiert ist und sie heftige Diskriminierung erfahren. Regina schliesst einen möglichen Zusammenhang zu Autismus und ihrem frühkindlichen Trauma nicht aus. Für sie spielt es jedoch keine Rolle, warum sie anders liebt als die meisten.

Sie ist glücklich mit ihrer Liebe. «Wenn ich mich entscheiden könnte, ich würde mich immer wieder für Oberleitungen entscheiden.» Jedoch wünscht sie sich mehr Akzeptanz der Gesellschaft. «Ich möchte einfach nur akzeptiert werden mit meiner Liebe. Ich bin anders, aber ich bin okay so, wie ich bin.»

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SRF 1, 02.12.24, 22:30 Uhr

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