Das Gefühl, anders zu sein als die Menschen in ihrem Umfeld, begleitet Stephanie (28), seit sie sich erinnern kann. Sie fühlte sich von Freundinnen und Freunden wie durch eine unsichtbare Glasscheibe getrennt. Die ungeschriebenen Regeln auf dem Pausenplatz waren ihr unverständlich.
Stephanie bemühte sich mit aller Kraft, «normal» zu wirken: Sie spielte Interesse für Teenagerthemen vor, doch am liebsten tauchte sie in die Welt der Grafik ein. Erst in der Lehre als Grafikerin durfte sie endlich ungehemmt und ungehindert über ihre Spezialinteressen sprechen.
Nach der erfolgreich abgeschlossenen Ausbildung wanderte sie nach Amsterdam aus und fand eine Stelle als Art Director bei einer renommierten Werbeagentur.
Burnout und Depressionen häufig
Doch dann kam der Zusammenbruch – ein Burnout zwang Stephanie in die Knie. Ein Jahr später erhielt sie die Diagnose Autismusspektrumstörung (ASS). «Die Diagnose war Schock und Erleichterung zugleich für mich», erinnert sich Stephanie.
Ihr Leben lang hatte sich Stephanie bemüht, «normal» zu sein. Dieser Traum war nun geplatzt. Andererseits hatte sie nun endlich eine Erklärung dafür, warum sie sich ihr ganzes bisheriges Leben lang so anders gefühlt hatte und ihren Alltag als so erschöpfend erfahren hatte
Besonderes «Betriebssystem»
Menschen mit der Autismusspektrumstörung ASS haben – salopp formuliert – ein anderes «Betriebssystem» als die grosse Mehrheit. Sie weisen einerseits meist eine Überempfindlichkeit gegen Reize von aussen auf – Lärm, Licht, Gerüche oder Berührungen prasseln ungefiltert auf Betroffene ein und können schlimmstenfalls zu einem Zusammenbruch, einem Meltdown, führen.
Andererseits sind für Menschen im Spektrum soziale Kontakte oftmals schwierig: Viele ASS-Betroffene können Emotionen bei ihrem Gegenüber oder bei sich selbst nur schwer lesen. Dies hat zur Folge, dass die meisten Autisten und Autistinnen alles Zwischenmenschliche wie eine «Fremdsprache» kognitiv erlernen müssen, was enorm viel Energie kostet.
«Superpower Autismusspektrumstörung»
Menschen im Autismusspektrum haben Arbeitgebern jedoch viel zu bieten: Stephanies Vorgesetzte bei JungvonMatt in Zürich ist begeistert über deren Kreativität. Denn durch ihr anderes Denken kommen Menschen mit ASS oftmals auf unkonventionelle und innovative Lösungen.
Aber auch Stephanies Genauigkeit und ihre Beharrlichkeit sind ein grosser Vorteil für ihre Agentur. Das Team habe sich zwar daran anfangs daran gewöhnen müssen, dass Stephanie so viele Fragen stellte und alles ganz genau wissen wollte, erinnert sich Dominique Magnusson, Stephanies Vorgesetzte. Doch mit ihrem ständigen Nachfragen ging es ihr einzig und allein darum, die Organisation zu verbessern.
Ausgeprägt logisches Denken und Spezialwissen
Mit seinen Fragen eckte auch Michael Maurantonio an: Der studierte Molekularbiologe arbeitet heute – nach einigen Jobwechseln – als selbständiger Mediastratege.
Wenn ihm etwas nicht logisch erscheint, fragt Michael Maurantonio nach. «Wie meinst du das?» oder «Bist du sicher?» sind seine häufigsten Fragen. Seine Vorgesetzten fühlten von ihm provoziert. Dabei wollte auch er nur seinen Job so gut wie möglich machen, nach der besten Lösung suchen.
Menschen wie Michael Maurantonio denken absolut logisch und haben oftmals ein immenses Wissen über ihre Spezialgebiete. Davon profitiert heute sein Team bei der Branding-Agentur twofold in Zürich, wo Maurantonio einen Tag pro Woche als Strategiechef arbeitet.
Wenn er sich dort in ein Problem verbissen hat, kann er gut und gerne zwölf oder mehr Stunden am Stück arbeiten, ohne zu essen oder zu trinken.
Direkt und effizient
Wenn Arbeitgebende sich auf das besondere «Betriebssystem» von Menschen im Autismusspektrum einlassen, kommen sie meist in den Genuss von überaus loyalen, langjährigen Mitarbeitenden.
Unsere Meetings sind kurz, weil wir nicht immer noch Smalltalk über das Wetter führen müssen.
Auch die sprichwörtliche Ehrlichkeit und Direktheit von Mitarbeitenden im Spektrum kann sich auf Unternehmenskulturen positiv auswirken, sagt Noé Robert, Geschäftsführer von twofold: «Unsere Meetings sind kurz, weil wir nicht immer noch Smalltalk über das Wetter führen müssen.»
Auch Loris Gautschi, Geschäftsführer bei it5-Solutions in Biel, schätzt die Ehrlichkeit und Direktheit von Matthias Bächler (22), seinem Angestellten mit ASS. «Wenn Matthias eine Meinung zu einem Problem hat, dann äussert er diese rund heraus. Das spart Zeit und Ressourcen», sagt Gautschi. Und er kommt ins Schwärmen, wenn er über Matthias’ Engagement und dessen «Drive» spricht: «So etwas sehe ich nicht bei neurotypischen Mitarbeitenden.»
Matthias erwähnte seine Autismusspektrumstörung am Ende seines Vorstellungsgespräches. Loris Gautschi schätzte diese Ehrlichkeit und stellte den Informatiker ein.
«Handicap Autismusspektrumstörung»
Doch nicht alle ASS-Betroffenen haben so verständnisvolle Vorgesetzte: Sandra (Name geändert), hat sich ihrem Teamleiter nicht anvertraut – zu gross ist ihre Angst vor Stigmatisierung.
Sandra ist sich zwar bewusst, dass ihre Analysefähigkeit und ihr Auge für Details eine richtiggehend «Superpower» sind: «Fehler in einer Tabelle, die meine Kollegen übersehen, springen mich richtiggehend an und ich erkenne sie sofort», sagt Sandra über sich selbst.
Doch sie sei überzeugt davon, dass ihre besonderen Fähigkeiten umgedeutet und abgewertet würden, wenn sie ihrem Team von der Diagnose ASS erzählen würde. Aus Attributen wie «Detailfokussiertheit» und «Genauigkeit» würden dann «Pingeligkeit» und «Pedanterie», befürchtet sie.
So versucht Sandra Tag für Tag «normal» zu funktionieren, den Lärm im Grossraumbüro auszublenden, Augenkontakt zu halten und Berührungen wie ein Händedruck über sich ergehen zu lassen. So sinkt ihr Energielevel ständig. Mittlerweile hat Sandra nicht einmal mehr Energie für ihre Hobbys und Spezialinteressen, geschweige denn für berufliche Weiterbildungen.
Outing: Chance und Risiko
Katja Buchwalder, die als Arbeitscoach bei der Stiftung «Autismuslink» arbeitet, rät Betroffenen zu Offenheit, wobei sie aber niemanden dazu dränge. Es brauche viel Mut, zu sich selbst und zum «Anderssein» zu stehen. Aber nur so erhalte der Arbeitgeber die Möglichkeit, Anpassungen im Arbeitsumfeld zu schaffen.
Dazu gehörten bspw. die Erlaubnis, im Grossraumbüro Kopfhörer zu tragen, eine Trennwand als Sichtschutz aufzustellen, einen Arbeitsplatz weit weg vom Eingang zu wählen, Geruchs- oder Lichtimmissionen zu vermindern.
Haltung des Arbeitgebers ist entscheidend
«Es braucht Offenheit und den Willen seitens der Arbeitgebenden und ihrer Teams, nicht von sich auf andere zu schliessen», sagt Kinder- und Jugendpsychologin Katja Buchwalder.
Zum Beispiel beim Thema Pausen: Während es für einen nicht-autistischen, also einen neurotypischen Mitarbeitenden erholsam sein kann, mit den Mitarbeitenden über das Fussballspiel am Vorabend zu plaudern, könne dies für einen Angestellten im Spektrum zum anstrengendsten Teil des Arbeitstages werden, sagt Buchwalder.
Betroffene erholten sich meist besser in einer ruhigen, reizarmen Umgebung ohne soziale Kontakte, würden aber wegen dieses Rückzugs oft als eigenbrötlerisch abgestempelt.
Doch leider scheint Offenheit dem Arbeitgeber gegenüber nicht immer der richtige Weg zu sein. Regula Buehler, Geschäftsleiterin bei Autismus Schweiz, weiss von Betroffenen, die als Folge darauf gar nicht erst zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurden: «Ein «Outing» ist eine sehr individuelle und persönliche Entscheidung, sie kann viele positive, aber leider auch negative Folgen haben», sagt Regula Buehler.