Der psychisch kranken Leonie wurde von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Ärztinnen und Behörden suggeriert, sie sei Opfer von ritueller Gewalt. Sie lebte sieben Jahre in der Vorstellung, von einem unbekannten, satanistischen Täterkreis missbraucht zu werden.
Hintergrund des Beitrags ist eine Recherche vom Mai des vergangenen Jahres. In dieser deckte das SRF-Reportageformat «rec.» auf, dass an renommierten Schweizer Kliniken psychisch kranke Menschen aufgrund einer Verschwörungserzählung therapiert werden.
Keine Beweise für Täterschaft
Nachdem diese Missstände durch «rec.» publik wurden, haben sich mehrere Opfer gemeldet. Darunter Leonie. Ihre behandelnde Therapeutin liess sie jahrelang im Glauben, sie hätte Blut getrunken, Babys aufgeschlitzt und sei von den Tätern mittels Mind Control programmiert worden.
Leonies Fall zeigt auf, dass sich nicht nur Therapeutinnen und Ärzte in der Verschwörungserzählung verloren haben, sondern auch die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), Polizei und Staatsanwaltschaft: Die satanistische rituelle Gewalt wurde von Leonies Behandlerinnen und involvierten Behörden als real existierende Gefahr angesehen, vor der man die 28-Jährige schützen muss. Doch in der Realität gibt es keinerlei Beweise für eine solche Täterschaft.
Leonie war mehrmals stationär in der Privatklinik Meiringen sowie im Psychiatriezentrum Münsingen – einer der grössten psychiatrischen Kliniken der Schweiz. Wie Leonies Akten zeigen, ist die Verschwörungserzählung der rituellen Gewalt auch an diesen beiden Kliniken in die Behandlungen eingeflossen.
So heisst es in einem Auszug aus einem «Tatsachenbericht» einer damals leitenden Ärztin an die KESB: «(Leonie) wurde für die Sekte gezeugt und für die Sekte von klein auf programmiert. (…) In Voll- und Leermondnächten treffen sich die Männer in schwarzen Kutten und roten Augen auf dem Friedhof. Sie bringen im Kofferraum nackte Mädchen mit (…) Eines der Mädchen muss einen Fetus schlachten. Das Blut wird zur Reinigung getrunken, das kleine Herz gegessen ...»
Kliniken distanzieren sich
Leonies Zustand hat sich aufgrund der Fehltherapie massiv verschlechtert. So wurde sie im Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) nächtelang ans Bett fixiert, weil die Behandler offenbar verhindern wollten, dass Leonie zu ihren angeblichen Peinigern geht.
Eine jüngst veröffentlichte Untersuchung zum Psychiatriezentrum Münsingen (BE) bestätigt die «rec.»-Recherchen: Die Verschwörungserzählung der rituellen Gewalt ist, laut Bericht, in die Behandlung mehrerer Patientinnen eingeflossen.
Der Direktor der Klinik, Ivo Spicher, hielt an der Medienkonferenz im November 2022 fest, er und die Klinik würden sich von der Verschwörungserzählung distanzieren. Zudem habe das PZM Massnahmen ergriffen, um solche Missstände an der Klinik künftig zu verhindern.
Auch die Klinik Meiringen (BE) meldet sich auf Anfrage der «Rundschau» zu Wort und distanziert sich vom «Tatsachenbericht» und den im Fall Leonie angewandten Behandlungsmethoden der inzwischen in der Klinik pensionierten leitenden Ärztin.
Doch für Leonie ist der Fall nicht abgeschlossen. Zwar hat sie die Verantwortlichen des PZM im Dezember 2022 zu einer Aussprache getroffen – aber auf eine Entschuldigung wartet sie bis heute vergebens.