Ein Spaziergänger entdeckt an einem Sonntagmorgen im September 2014 eine Frauenleiche, die im Vierwaldstättersee bei Stansstad treibt. Schnell wird klar: Es handelt sich um eine Prostituierte, die vor einigen Stunden als vermisst gemeldet worden ist.
Zuletzt gesehen wurde sie im Industriegebiet Ibach der Stadt Luzern. Dort schaffte sie auf dem Strassenstrich an. Die Rechtsmedizin stellt später fest, dass die Frau erwürgt wurde. Sie war bereits tot, als ihr Körper in den See geworfen wurde.
5000 Seiten Verfahrensakten, kein Ergebnis
Zuständig für die Aufklärung eines solchen Verbrechens ist der Kanton, auf dessen Gebiet die Leiche gefunden wird: in diesem Fall der Kanton Nidwalden.
Staatsanwaltschaft und Kantonspolizei ermittelten 2014 intensiv. Über 5000 Seiten Verfahrensakten zeugen vom grossen Aufwand, der betrieben wurde. Trotzdem konnte das Verbrechen nicht aufgeklärt werden. Der Fall Emilia Emilova wurde zu einem sogenannten «Cold Case».
Mit «Cold Cases» sind im Allgemeinen lange ungelöste und oft mysteriöse Fälle gemeint. Es handelt sich dabei weder um einen juristischen noch um einen kriminalistischen Fachterminus. Laut einer Definition des FBI aus den 1980er-Jahren werden damit ungelöste Kapitalverbrechen oder Vermisstenfälle bezeichnet, die während mindestens drei Jahren nicht geklärt werden konnten.
Sonderkommission im Einsatz
Vor drei Jahren bekam die Kantonspolizei Nidwalden einen neuen Kripo-Chef: Senad Sakic. «Aktuell ist das der einzige Cold Case im Sinne eines Kapitalverbrechens in unserem Kanton», sagt er.
Um den oder die Täter nach über zehn Jahren doch noch zu finden, hat Sakic eine Sonderkommission eingesetzt. Und er wendet sich nun an die deutsche Fernsehsendung «Aktenzeichen XY … Ungelöst».
Der Faktor Zeit spielt eine entscheidende Rolle und kann in einem solchen Fall ein Vorteil sein.
Diese wird einmal pro Monat im ZDF ausgestrahlt und bietet den Strafverfolgungsbehörden eine Plattform, um ein grosses Publikum bei ungelösten Verbrechen um Mithilfe zu bitten. Wer sachdienliche Hinweise hat, kann anrufen.
«So paradox es klingen mag, der Faktor Zeit spielt eine entscheidende Rolle und kann in einem solchen Fall ein Vorteil sein», sagt Senad Sakic. Abhängigkeitsverhältnisse und Ängste, die damals bestanden hätten, könnten heute nicht mehr vorhanden sein. Zudem sei es bekannt, dass sich viele Täter irgendwann irgendwem anvertrauten.
‹Aktenzeichen XY … Ungelöst› ist die Mutter des True Crime.
«Aktenzeichen XY … Ungelöst» wurde 1967 erstmals ausgestrahlt. Ab 1968 beteiligte sich das österreichische Fernsehen ORF, 1969 stieg auch das SRF ein. Fortan wurde «Aktenzeichen XY … Ungelöst» als Eurovisionssendung produziert und während Jahrzehnten von Eduard Zimmermann moderiert.
Worum es ihm ging, erklärte Zimmermann so: «Den Bildschirm zur Verbrechensbekämpfung einzusetzen, das ist die Idee unserer Sendereihe.» Im Zentrum stehen seit jeher wahre Verbrechen – neudeutsch: «True Crime».
«Heute ist True Crime in aller Munde», sagt Ina-Maria Reize-Wildemann. Sie leitet die deutsche Kriminal-Fachredaktion und entscheidet in Absprache mit der Polizei, welche Fälle in die Sendung kommen.
Heute gebe es einen regelrechten Hype um True Crime, stellt Reize-Wildemann fest: «Wir sind die Mutter des True Crime im deutschen Fernsehen und darüber hinaus.»
Aufklärungsquote: beinahe 40 Prozent
Der ORF zog sich 2002 von «Aktenzeichen XY … Ungelöst» zurück, das SRF im Jahr darauf. Das ZDF hielt bis heute an der Sendung fest und erzielt damit hohe Einschaltquoten.
Aber auch die Aufklärungsquote der Fälle, die in der Sendung präsentiert werden, ist seit Jahrzehnten konstant hoch: beinahe 40 Prozent. Eine bemerkenswerte Zahl, zumal nur Fälle in der Sendung landen, bei denen die Strafverfolgungsbehörden mit ihrem Latein am Ende sind.
Auch bei Cold Cases, die 20 oder 30 Jahre zurückliegen, kommt es regelmässig zu einem Durchbruch. Die Idee des Nidwaldner Kripo-Chefs, sich mit einem zehn Jahre alten Fall ans ZDF zu wenden, ist darum nicht abwegig.
Das traurige Leben der Emilia Emilova
Bei den Hinterbliebenen der 2014 in der Schweiz getöteten Emilia Emilova ist die Hoffnung gross, dass der oder die Schuldigen noch zur Rechenschaft gezogen werden.
Ihr Vater und ihre Schwester leben in einem kleinen Dorf namens Sindel ganz im Osten von Bulgarien. Beim Besuch des Grabes sagt ihre Schwester zu SRF: «Ich finde erst Ruhe, wenn der Mörder gefasst ist. Dann werde ich hierherkommen und ihr sagen, dass sie ihn haben.»
Emilia Emilovas Vater erzählt, seine Tochter habe früh geheiratet und zwei Söhne bekommen. Ihr Mann habe sie allerdings bald für eine andere verlassen und die Kinder behalten – sie habe sie nur noch an den Wochenenden gesehen. Emilia Emilova sei ins Elternhaus zurückgekehrt und habe sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, bis sie eines Tages plötzlich verschwunden sei.
Als sie nach mehreren Wochen wieder aufgetaucht sei, habe sie erzählt, sie sei in der Schweiz gewesen, wo sie in einem Café gearbeitet habe. Vermittelt habe ihr diese Arbeit ein Mann, ein Freund, den sie kennengelernt habe: Mehmed.
Mehmed ist untergetaucht
Wie sich später herausstellte, arbeitete Emilia Emilova nicht in einem Café, sondern als Prostituierte auf dem Luzerner Strassenstrich. Und Mehmed war nicht einfach ein Freund, sondern ihr Zuhälter.
Mehmed sei alle paar Wochen bei ihnen aufgetaucht und habe ihnen 100 oder 150 Euro gebracht, erinnern sich Emilia Emilovas Söhne, die damals 12 und 15 Jahre alt waren. Heute sind die beiden 22 und 25 Jahre alt und leben in Varna, einer Stadt an der bulgarischen Schwarzmeerküste.
Aus den Erzählungen der Hinterbliebenen ergibt sich, dass Emilia Emilova mit dem Geld, das sie in der Schweiz verdiente, eine Wohnung kaufen wollte für sich und ihre Söhne.
Ihre Einkünfte schickte sie Mehmed, der sie in eine Immobilie investieren und ein regelmässiges Taschengeld an die Kinder weitergeben sollte. Die Söhne erhielten tatsächlich einen kleinen Teil des Geldes, den Rest behielt Mehmed für sich.
Wo er sich heute aufhält, ist unklar – er ist untergetaucht. Das Geld ist verschwunden.
War es ein Auftragsmord?
Emilia Emilova war nicht die einzige Frau, die in der Schweiz für Mehmed anschaffte. Er selbst blieb in Bulgarien und gab von dort seine Anweisungen. Als Emilia habe aussteigen wollen, habe Mehmed sie und ihre Familie massiv bedroht, erzählen die Hinterbliebenen. Aus Angst sei sie rund ein Jahr lang auf den Strich gegangen, bis sie im September 2014 getötet wurde.
Emilias Schwester Ginka Kirova geht davon aus, dass an ihr ein Exempel statuiert worden sei: Wer sich widersetze und allenfalls auspacken könnte, lebe gefährlich.
Emilia Emilova habe den Fehler gemacht, den anderen Frauen, die mit ihr zusammen anschafften, zu erzählen, dass sie fliehen wolle, sagt ihre Schwester: «Die haben sie bei Mehmed verpfiffen.»
Es kommt hinzu, dass Mehmed zu jenem Zeitpunkt ins Visier der Kantonspolizei Luzern geraten war. Eine der Frauen, die für ihn auf den Strich gingen, hatte sich nämlich einer Mitarbeiterin des Vereins Lisa anvertraut. Dieser Verein hatte ab 2013 einen Container auf dem Strassenstrich, in dem sich die Frauen aufwärmen konnten und beraten wurden.
Nun stand der Verdacht Menschenhandel im Raum – und Emilia Emilova, die sowieso aussteigen wollte, hätte gegen Mehmed aussagen können.
Oder war Emilia ein Zufallsopfer?
Möglich ist allerdings auch, dass Emilia Emilova ein Zufallsopfer war. Der Luzerner Strassenstrich im abgelegenen Industriegebiet Ibach war nämlich für alle, die dort arbeiteten, ein gefährlicher Ort.
Es sei vor und nach Emilia Emilovas Tod wiederholt zu massiver Gewalt gekommen, erzählt Birgitte Snefstrup, die von 2013 bis 2021 Geschäftsleiterin des Vereins Lisa war. Es habe bewaffnete Überfälle, Vergewaltigungen und Entführungen gegeben, so Snefstrup.
Ich glaube, dass wir Licht in diesen komplexen Fall bringen werden.
«Von uns würde eine Last abfallen, wenn wir sehen, dass die Gerechtigkeit siegt und der Schuldige bestraft wird», sagt Emilia Emilovas jüngerer Sohn Hristo. Und auch die Mutter könnte dann Ruhe finden, ergänzt Asen, der Ältere.
Senad Sakic, dem Nidwaldner Kripo-Chef, ist bewusst, wie wichtig es für die Hinterbliebenen ist, dass der Fall endlich geklärt wird. Darum werde er nun neu aufgerollt. «Die Strafprozessordnung gibt uns heute mehr Ermittlungsbefugnisse als noch vor 10 Jahren», sagt er. Zudem habe es Fortschritte in Technik und Wissenschaft gegeben, sodass alte Spuren neu untersucht werden könnten. «Ich glaube, dass wir Licht in diesen komplexen Fall bringen werden», so Sakic.