Markus Zangger machte im April Schlagzeilen mit dem Buch «Jürg Jegges dunkle Seite» über den sexuellen Missbrauch des einstigen Starpädagogen. «DOK»-Recherchen zeigen jetzt: Vier weitere Sonderschüler und Opfer waren wie Markus Zangger noch weit bis ins Erwachsenenalter abhängig von Jürg Jegge – psychisch und finanziell.
Einer von ihnen war Markus Zanggers Bruder Daniel. Auch er besuchte Jürg Jegges Sonderklasse in Embrach anfangs der 1970er Jahre und wurde vom Pädagogen missbraucht. Später brach er eine von Jürg Jegge vermittelte Lehre ab und arbeitete als Hilfsarbeiter. Als er 30 Jahre alt war, bot ihm Jürg Jegge eine Lehrstelle in seiner «Stiftung Märtplatz» an. Jürg Jegge gründete die Ausbildungsstätte für junge Erwachsene mit psychischen und sozialen Problemen 1985 und präsidierte sie bis 2011, als er altershalber zurücktrat.
Daniel Zangger figuriert in der «Märtplatz»-Gründungsphase als stellvertretender Chef. Diese Position aber hatte er faktisch nie inne: «Ich war damals Koch-Lehrling».
Nach der Lehre verliess Daniel Zangger den «Märtplatz», kehrte aber abermals zurück, als Jürg Jegge ihn bat, als Koch-Lehrmeister schwierige Jugendliche auszubilden. In der Privatwirtschaft wäre eine solche Anstellung unmöglich gewesen, sagt Daniel Zangger. Er hatte keinerlei Praxiserfahrung.
Der 'Märtplatz' war wie eine kleine Sekte.
Wurden Steuergelder verschleudert?
Der Geist der 68er war seit 30 Jahren Vergangenheit, am «Märtplatz» aber galt er nach wie vor. Ein ehemaliger Lehrmeister sagt «DOK» gegenüber, dass Lehrlinge oft nur halbtags oder gar nicht erschienen seien.
Laut einer «Märtplatz»-Statistik von 1999 finanzierte die Invalidenversicherung die Ausbildung der Lehrlinge im Schnitt 4 Jahre lang. Vereinzelt bezahlte die IV sogar während sieben Jahren. Das war aber keine Garantie für Erfolg: Nur die Hälfte der «Märtplatz»-Lehrlinge war nach der Ausbildung nicht mehr voll von der IV abhängig. Die IV schreibt, sie erfasse die Ausgaben für «Märtplatz»-Lehrlinge erst seit dem Jahr 2000 elektronisch: Zwischen 2000 und 2012 habe sie insgesamt 24,5 Millionen Franken an den «Märtplatz» bezahlt. Ob damals Steuergelder verschleudert wurden, kann die Versicherung nicht ausschliessen. Erst seit 2012 untersucht sie die Qualität von Institutionen wie dem «Märtplatz» systematisch.
Geschlossene «Märtplatz»-Gesellschaft
«Der 'Märtplatz' war wie eine kleine Sekte», sagt Missbrauchsopfer Daniel Zangger. Die Angestellten hätten sich als Auserwählte in einem speziellen System gewähnt. Gleich wie ihm erging es zwei anderen ehemaligen Sonderschülern und Missbrauchsopfern, die Jürg Jegge ebenfalls als Lehrmeister beschäftigte.
«Märtplatz»-Stiftungsrätin Hanna Brauchli und der langjährige Vizepräsident des Stiftungsrats Werner Ebneter reagieren alarmiert: «Das ist eine Frechheit!» Jürg Jegge habe die Opfer wohl angestellt, um seine Missbrauchspraxis zu verdecken. Ebneter, damals Gemeindepräsident der «Märtplatz»-Standortgemeinde Rorbas, erinnert sich, dass Jürg Jegge den Stiftungsrat zur Mehrheit mit Lehrlingen und Lehrmeistern besetzen wollte. Die kantonale Stiftungsaufsicht habe das aber verhindert.
Damit ich die Schnauze halte.
Sexueller Missbrauch auch bei Lehrlingen
Jürg Jegges Aussagen, er habe keine «Märtplatz»-Lehrlinge missbraucht, widersprechen ehemalige Lehrlinge und Angestellte.
«So ein Quatsch!» sagt IV-Rentner Paul Speck. Als 16- bis 19jähriger Lehrling sei er von Jürg Jegge auf Reisen nach Wien missbraucht worden. Er wisse darüber hinaus von vier weiteren Lehrlingen, die ihm von sexuellen Übergriffen erzählt hätten.
Finanzierung von Heroinkonsum
Der heute 48jährige Paul Speck wirft Jürg Jegge ausserdem vor, seinen Heroinkonsum mitfinanziert zu haben. Auch er war früher Schüler bei Jürg Jegge, der Missbrauch habe im Alter von etwa 13 Jahren begonnen. Als 16jähriger sei er zum Fixer geworden. Jürg Jegge habe ihm Geld gegeben im Wissen darum, dass er es für Drogen ausgebe.
«Damit ich die Schnauze halte.» Jegge gebe ihm auch heute noch Geld. In den letzten 35 Jahren seien es rund 14'000 Franken gewesen, sagt Paul Speck.
Jürg Jegge hat seine Fürsorgepflicht total vernachlässigt.
Vernachlässigung der Fürsorgepflicht
Auch Gelegenheitsarbeiter Andreas Guggenberger wurde von Jürg Jegge sexuell missbraucht. Er habe neun Monate lang als Schüler in Jegges Haus gewohnt, sei aber insgesamt nur während vier Tagen zur Schule gegangen.
Der antiautoritäre Lehrer habe gesagt, sein Schüler ertrage keinen Druck. In den ersten Monaten habe ihm Jürg Jegge viel Aufmerksamkeit geschenkt und lange Gespräche mit ihm geführt. Nachdem sich Jürg Jegge einem anderen Schüler zuwandte, habe er sich oft betrunken und einen Selbstmordversuch unternommen. Andreas Guggenberger zu «DOK»: «Jürg Jegge hat seine Fürsorgepflicht total vernachlässigt.»
Keine Stellungnahme von Jürg Jegge
Der gefallene Starpädagoge nimmt keine Stellung. Er schreibt, er wolle zuerst den Ausgang der Strafuntersuchung abwarten. «DOK»-Recherchen zeigen: Diese steht vor dem Abschluss. Die Zürcher Staatsanwaltschaft will die Strafuntersuchung gegen den Pädagogen voraussichtlich einstellen – der Missbrauch sei verjährt.