Er sei ein Querdenker, sagt Frank Urbaniok über sich. Einer, der sich gerne einmische. Einer, der den Finger auf wunde Punkte lege. Einer, der anecke und polarisiere. Das zieht sich wie ein roter Faden durch seine Biographie.
Schon als Gymnasiast fiel er durch überdurchschnittliche Intelligenz auf, gleichzeitig war er unbequem und streitlustig. Er erinnert sich an einen Lehrer, der ihm mit 16 sagte: «Frank, Ihnen fehlt die Demut.» Da könnte etwas dran sein, findet er heute: «Vielleicht fehlt mir wirklich die Demut.»
Denkverbote sind für Demokratien und offene Gesellschaften Gift.
Und so fasste er im Laufe seines Berufslebens immer wieder heisse Eisen an und mischte sich in politische Debatten ein. «Denkverbote, Tabuisierungen oder Beschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit sind für Demokratien und offene Gesellschaften Gift», begründet er seine Freude an der intellektuellen Auseinandersetzung.
Der «Fall Hauert» und die Lehren daraus
Urbaniok kam Mitte der 1990er Jahre nach Zürich. Kurz nach dem «Fall Hauert»: Im Oktober 1993 wurde in Zollikerberg die 20-jährige Pfadiführerin Pasquale Brumann vergewaltigt und ermordet.
Der Täter war kein Unbekannter. Erich Hauert hatte bereits zwei Sexualmorde und elf Vergewaltigungen begangen und sass in Regensdorf eine lebenslängliche Freiheitsstrafe ab. Der Fall löste Betroffenheit und Wut aus. Wieso wurden einem solchen Menschen unbegleitete Hafturlaube bewilligt? Wieso konnte er weiter morden?
Urbaniok sprach das aus, was vielen Insidern des Justizvollzuges klar war. Der Fall Hauert war nicht aus heiterem Himmel geschehen, er legte vielmehr einen Systemfehler offen.
Systemfehler im Justizvollzug
Damals wurden bei Straftätern keine individuellen Risikobeurteilungen gemacht und die Therapien waren nicht speziell auf die Senkung von Rückfallrisiken ausgerichtet. Dass es Menschen gibt, vor denen man die Gesellschaft dauerhaft schützen muss, war in jener Zeit undenkbar.
Opfer wurden als unvermeidliche Kollateralschäden einer humanen Justiz gesehen, Straftaten als gesellschaftliches Phänomen begriffen, nicht als individuelle Problematik. Es galt, die sozialen Verhältnisse zu verändern, dann fänden Täter quasi von alleine auf den rechten Weg zurück, so die aus heutiger Sicht naive Lehrmeinung.
Neue Rezepte waren gefragt. Und der damals gut 30-jährige Urbaniok übernahm die Themenführerschaft. Die Justiz müsse potenzielle Opfer schützen. Dafür müsse der gesamte Justizvollzug in Zürich umgebaut und komplett professionalisiert werden.
Im Zweifel für die Sicherheit
Und es brauche den Mut zu harten Entscheidungen. Urbaniok forderte: Die Mehrheit der Täter professionell therapieren, um ihre Risiken zu senken, und die kleine Gruppe der hochgefährlichen Unbehandelbaren wegsperren – wenn nötig für immer. Für diese Position wurde er harsch kritisiert, gar beschimpft; aber sie setzte sich durch und ist heute gängige Praxis.
Die Annahme der Verwahrungsinitiative 2004 gab Urbaniok und seiner Mission Rückenwind. Mit der Umsetzung dieser Initiative tut sich die Justiz schwer.
Aber sie befeuerte einen Paradigmenwechsel, den Urbaniok prägte. Täter sollen nicht mehr nur für begangenes Unrecht bestraft werden. Auch potenzielle Risiken sollen erkannt und wenn möglich wegtherapiert werden. Und wenn das bei sehr gefährlichen Tätern nicht geht, sperrt die Justiz präventiv weg.
Ich gehe davon aus, dass ich etwas bewegt habe
«Ich gehe davon aus, dass ich etwas bewegt habe», sagt Urbaniok. Tatsächlich war er massgeblich an einer Zeitenwende beteiligt. Ein ganzes System wurde umgebaut: Neu wurden der Schutz potenzieller Opfer und damit das Präventionsprinzip zu massgebenden Elementen im Justizvollzug.
«Zumindest im Kanton Zürich führte das über viele Jahre zu rekordverdächtig tiefen Rückfallquoten, ganz im Sinne meines zentralen Credos: Eine Gesellschaft mit weniger Opfern ist eine gesündere Gesellschaft.»
Heute sind psychiatrische Befunde entscheidend für Gerichtsurteile und den Vollzug. Urbaniok und seine Kollegen gelten als «Richter in weiss». Gleichzeitig ist die Skepsis gegenüber der forensischen Psychiatrie gewachsen und entlädt sich oft an ihrem prominentesten Exponenten: Frank Urbaniok.
Der bestreitet keineswegs, dass die Qualität von Gutachten und Therapien bisweilen bedenklich ist.
Der «Fall Rupperswil»
Urbaniok scheute sich auch nicht davor, Kollegen auf die Füsse zu treten. So geschehen Ende 2018. Kurz vor der Obergerichts-Verhandlung des Vierfach-Mordes von Rupperswil. Die zentralen Fragen waren: Ist Thomas N. therapierbar? Oder ist er ein Fall für die lebenslängliche Verwahrung?
Beide forensischen Psychiater diagnostizierten eine Pädophilie, einer zudem eine narzisstische, der andere eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung. Wieso N. gemordet hatte, blieb aber offen.
Vor Gericht gehe es nicht nur um Diagnosen, sagte Urbaniok der «Aargauer Zeitung» unmittelbar vor dem Prozess, ein Gutachten müsse auch das Delikt erklären. «Ich schätze beide Gutachter. Sie sind sehr erfahren und für ihre sorgfältige Arbeitsweise bekannt.» Dann kam das grosse Aber.
Solange man die Tötung nicht erklären kann, kann man nichts über die Therapierbarkeit sagen.
Die Gutachter stuften Thomas N. als therapierbar ein und rechneten mit einem Therapieerfolg in einem Zeitraum von «mindestens fünf» oder «fünf bis zehn Jahren». «Diese Feststellung ist aus meiner Sicht fachlich nicht abgestützt», sagte er, «solange man die Tötung nicht erklären kann, kann man nichts über die Therapierbarkeit sagen.»
Dafür gab es Applaus, aber auch harsche Kritik, etwa: Er trete als selbst ernannter Obergutachter auf und missbrauche seine Autorität als anerkannter Fachmann. Oder: Er äussere sich, ohne die Akten zu kennen, das sei unseriös. Niemand ging indes darauf ein, dass Urbaniok ein logisches Grundsatzproblem aufgezeigt hatte, das sich problemlos aus dem öffentlich Bekannten erschloss und zuvor offenbar niemandem aufgefallen war: Wenn Gutachter nicht wissen, wieso ein Täter wie Thomas N. getötet hat, was also seine Gefährlichkeit ausmacht, wie können sie dann wissen, was sich ändern müsste, damit dieser Mensch nicht mehr gefährlich ist für andere?
Aber was soll denn der Wert eines Gutachtens sein, wenn es nicht versucht, die Gründe einer Tat herauszuarbeiten?
Urbaniok sieht die Funktion eines Gutachtens vor allem darin, ein Delikt zu erklären. Er spricht vom «Deliktmechanismus». Es gelte, den Zusammenhang zwischen den Risiko-Eigenschaften einer Person und ihrer Tat aufzuzeigen.
«Das ist die Grundlage für die Risikobeurteilung, für die Gestaltung einer Therapie und die Beurteilung von Therapieerfolgen.» Mit dieser Position ist Urbaniok in seinem Fachgebiet erstaunlicherweise in der Minderheit. «Aber was soll denn der Wert eines Gutachtens sein, wenn es nicht versucht, die Gründe einer Tat herauszuarbeiten?», fragt Urbaniok rhetorisch.
Ausländerkriminalität nicht klein reden
Unbeeindruckt vom steifen Gegenwind im «Fall Rupperswil» bastelt Urbaniok bereits an der nächsten Bombe: Ausländerkriminalität sei ein viel grösseres Problem als von Politik und Medien dargestellt. Aber es werde aus falsch verstandener politischer Korrektheit tabuisiert.
«Es besteht die Befürchtung, dass mit der Thematisierung spezifischer Probleme im Zusammenhang mit Ausländerkriminalität rassistische Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit begünstigt werden», sagt Urbaniok.
Vor diesem Hintergrund sei ein Standard-Argumentarium etabliert worden, «das den Zusammenhang von Nationalität und Herkunft mit bestimmten kriminellen Phänomenen verschleiern soll.» Dies biete Angriffsflächen für Populisten und sei gefährlich für unsere Demokratie.
Kriminalität zu bekämpfen sei eine generelle Pflicht eines jeden Staates und Ausländerkriminalität ein Teilaspekt dieser Aufgabe. «Das Benennen spezifischer Problemstellungen im Zusammenhang mit Ausländerkriminalität und die Bekämpfung dieser spezifischen Probleme ist kein Widerspruch zum Eintreten für kulturelle Vielfalt und den Kampf gegen Diskriminierungen von Ausländern. Im Gegenteil. Es sind zwei Seiten derselben Medaille.»
Es gibt Themen, die verdächtig sind, die unbequem sind. Die kommen in der öffentlichen Diskussion nicht oder zu wenig vor.
Dazu hat Urbaniok einen lesenswerten Artikel geschrieben und mehreren deutschen Publikationen angeboten. Ein brisantes Thema, zumal in Deutschland. Aber kein Medium wollte sein Skript drucken.
Dass er nur Absagen erhielt, erklärt er sich auch mit «weicher Zensur». «Da ist keine Behörde, die das offiziell zensiert, aber es gibt Selbstzensur. Es gibt Themen, die verdächtig sind, die unbequem sind. Die kommen in der öffentlichen Diskussion nicht oder zu wenig vor.» Urbaniok brachte seinen Artikel schliesslich in der Fachzeitschrift «Kriminalistik» unter. Echo: keines.
Darauf lässt er es freilich nicht beruhen. Anfang 2020 will er mit einem Buch nachlegen: «Es geht um die Schwächen der menschlichen Vernunft und darum, warum wir Kriege führen, Regeln bis zur Absurdität ausbauen, uns gerne selbst belügen, so empfänglich für einfache Botschaften von Populisten sind und vieles mehr.»
Dem Thema Ausländerkriminalität widmet er ein ganzes Kapitel. «Denn Diskussionen ohne Denk- und Redeverbote verstehe ich als ein zentrales Element demokratischer Gesellschaften.» Man darf gespannt sein, ob es Urbaniok gelingt, eine Diskussion in Gang zu bringen.