«Es ist sehr, sehr schwierig über Rassismus zu reden in der Schweiz. Er wird verneint, aber trotzdem ist er täglich präsent.» Das sagt Evelyn Wilhelm, die Schwester von Roger Nzoy Wilhelm, der im Sommer 2021 in Morges am Bahnhof von einem Polizisten erschossen wurde.
Sie musste dafür kämpfen, dass sie und ihr anderer Bruder im Verfahren gegen den Polizisten als Privatkläger zugelassen wurden.
Für Evelyn Wilhelm ist klar, dass das mit ihrer Hautfarbe zu tun hat: «Ich habe noch nie gehört von nicht-farbigen Mitmenschen, dass sie beweisen müssen, dass sie ein enges Verhältnis zu ihren Geschwistern haben.»
Die Strategien, wie Schwarze Menschen in der Schweiz mit Rassismus umgehen, sind so unterschiedlich wie die Menschen.
Daniel Kora etwa, Experte für Anästhesiepflege, sagt: «Ich versuche, mich nicht an Orten aufzuhalten, wo ich Rassismus begegnen könnte.» Ein Restaurant würde er nie allein aufsuchen, Bahnhöfe meidet er.
Der Pass ist immer dabei
Diese Strategie kennt Evelyn Wilhelm auch von ihrem Bruder. Er habe immer den Pass dabei gehabt und oft eine Tasche getragen, um touristischer auszusehen.
Evelyn Wilhelm: «Es gibt sehr viele Schwarze Männer, die einen Anzug tragen, obwohl sie nicht müssten. Einfach, um nicht aufzufallen. Es ist ein unglaublicher Stress für Schwarze Männer, sich in der Stadt zu bewegen, ohne von der Polizei kontrolliert zu werden.»
Daniel Koras Tochter, die Leichtathletin Salomé Kora, versucht es mit Verdrängen: «Mit Rechtfertigen und Denken, vielleicht hat die Person einfach einen schlechten Tag.»
Oder sie sei besonders zuvorkommend: «Ich bin sehr darauf bedacht, positiv aufzufallen, freundlich zu sein. Um ja nicht negativ aufzufallen.»
Strategien gegen Rassismus
Yvonne Apiyo Brändle-Amolo wählte eine Vorwärtsstrategie. Sie begann, sich für typisch schweizerische Aktivitäten zu interessieren.
Die gebürtige Kenianerin engagiert sich beispielsweise als Gemeinderätin, leistet Zivilschutz und hat Jodeln gelernt. Sie sagt: «Wir wollen dazugehören und dass unsere Perspektive einbezogen wird.»
Kay Kysela, Schauspieler und Ensemblemitglied des Zürcher Schauspielhauses, wehrte sich nach einem Erlebnis mit der Polizei: «Ich frage mich einfach, wie es jemandem geht, der sich nicht mit der Sprache wehren und den Schweizer Pass hervorholen kann.»
Die NGO «Humanrights.ch – Menschenrechte Schweiz» definiert Racial Profiling folgendermassen: «Der Begriff ‹Rassistisches Profiling› bezeichnet alle Formen von diskriminierenden Personen- und Fahrzeugkontrollen gegenüber Personengruppen, welche von den Polizistinnen und Polizisten als ethnisch oder religiös ‹andersartig› wahrgenommen werden.»
Ashkira Darman tritt der Vorstellung entgegen, dass die Schweiz mit Rassismus nichts zu tun habe, da sie keine eigenen Kolonien hatte. Die promovierte Historikerin und Geschichtslehrerin forscht zur Entstehung von Rassismus. Zurzeit arbeitet sie an einem städtischen Forschungsprojekt der ETH zum Thema «Häuserinschriften mit rassistischer Wirkung».
Ashkira Darman: «Die Wertvorstellungen und Bilder, die während des Kolonialismus in den Kolonien und Kolonialmächten entstanden, waren auch in der Schweiz verbreitet.» Die Vernetzung in Europa sei riesig gewesen, die Schweiz keine Insel. Es sei darum gegangen, wie die Herrschaft über andere Menschen legitimiert werden konnte. Herzstück dieser Ideologie sei Rassismus.
Ashkira Darman: «Damit haben die Kolonialmächte die Ausbeutung und die Unterdrückung der Menschen in den Kolonien legitimiert. Diese Ideologie war verbreitet. Das war leider das normale Denken der Menschen in Europa im 19. und anfangs 20. Jahrhundert.»
Koloniale Komplizenschaft
Die Verstrickungen der Schweiz mit Kolonialismus waren eng – sowohl über Einzelpersonen als auch über Firmen. «Man nennt das ‹Koloniale Komplizenschaft›», sagt Ashkira Darman. «Einerseits wurden die kolonialen Regimes unterstützt, andererseits hat man auch die eigenen Interessen vertreten.»
Für Zürich hat man bereits aus dem 16. Jahrhundert Quellen, die belegen, dass Schweizer nach Westafrika gereist sind und dort Teil des Sklavenhandels waren.
Auch im Sklavenhandel waren Schweizer involviert: «Für Zürich hat man bereits aus dem 16. Jahrhundert Quellen, die belegen, dass Schweizer nach Westafrika gereist sind und dort Teil des Sklavenhandels waren. Man hat sogar Belege für Zürcher Pfarrer, die ausgewandert sind, die auch versklavte Menschen beschäftigt haben auf ihrem Kirchgemeindeland.»
Auch die Stadt Zürich war involviert: «Die Stadt hat eine grosse Investition gemacht, zum Beispiel in die South Sea Company. Das war eine britische Gesellschaft, die das Monopol darauf hatte, versklavte Arbeitskräfte in die spanischen Kolonien importieren zu können.»
«Die Amnesie bezüglich kolonialer Beziehungen war in ganz Europa sehr, sehr lange vorhanden», sagt die Historikerin. «Für die Schweiz war es vielleicht ein bisschen einfacher, weil sie selbst tatsächlich keine Kolonien hatte. Auch das Selbstbild, das sich entwickelt hat von der neutralen Schweiz, die vor allem auf der Seite der Guten stand, ist ein sehr starkes Selbstbild.» In den letzten Jahren werde die Schweizer Geschichte ergänzt mit dem weniger erfreulichen Aspekt der kolonialen Verstrickungen.
Auseinandersetzung mit Geschichte
«Es wäre schön gewesen, wenn mit den Kolonien auch Rassismus verschwunden wäre», sagt Ashkira Darman. Doch die Ideologie sei geblieben. Deshalb sei es wichtig, sich mit der Geschichte und der Herkunft von Rassismus auseinanderzusetzen.
Nur so sei die strukturelle Dimension zu verstehen und liesse sich Rassismus in der heutigen Gesellschaft bekämpfen. Rassismus – keine individuelle Überempfindlichkeit, sondern ein Problem, das die Gesellschaft als Ganzes angeht.