Der Diskurs um Rassismus verunsichert: «Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, etwas Falsches zu sagen. Im schlimmsten Fall gelte ich sogar als rassistisch, weil es mich interessiert, wo Menschen herkommen und was für Geschichten sie haben», schreibt mir eine SRF-Hörerin.
Meiner Erfahrung nach eskalieren Gespräche über Rassismus früher oder später. Am Ende sind alle verletzt: Die einen, weil sie Rassismus benennen möchten und nicht gehört werden. Die anderen, weil sie nicht in die Rassismusecke gestellt werden wollen.
«Was darf ich noch sagen?»
Zum Glück ist vieles lernbar. Auch eine rassismuskritische Haltung. Die Anti-Rassismus-Expertin Rahel El-Maawi aus Zürich kann dabei unterstützen: Zu ihr kommen Organisationen, Vereine und Firmen, die auf eine diverse und rassismuskritische Betriebskultur hinarbeiten möchten – oder Journalistinnen wie ich, die wissen wollen, wie Gespräche über Rassismus gelingen können.
Die Gedanken und Gefühle der eingangs erwähnten SRF-Hörerin kennt Rahel El-Maawi aus ihren Workshops. Sie fragt die Teilnehmenden mitunter, wie sie reagieren, wenn Rassismus angesprochen wird. Die gängigen Antworten hat sie auf einem Blatt zusammengetragen:
«Was darf ich noch sagen?»
«Immer diese Rassismuskeule!»
«Das habe ich so nicht gemeint.»
«Es gibt andere Probleme.»
«Warum wird es immer so persönlich genommen?»
Das seien Abwehrreaktionen, sagt Rahel El-Maawi. Anstelle zu sagen: «Danke, dass du mich darauf hingewiesen hast», wird es zurückgewiesen. So entstünden Patt-Situationen: «Wir können als Gesellschaft bei allen Diskriminierungsformen lernen, solche Hinweise als nächsten Lernschritt zu akzeptieren.»
Schon allein das Wort triggert
Ich kenne solche Abwehrreaktionen aus eigenen Begegnungen. Wenn ich Rassismus benenne – also mein Gegenüber konkret darauf hinweise, dass diese Aussage oder jene Handlung rassistisch ist – erlebe ich oft ähnliche Reaktionen.
Reaktion Nummer 1: «Das stimmt doch gar nicht!»
Wenn ich mein Gegenüber darauf hinweise, dass eine Aussage rassistisch ist, lautet die Antwort oft: «Das stimmt nicht, das habe ich nicht so gemeint».
Eine Aussage kann aber auch dann rassistisch sein, wenn sie nicht so gemeint war. Um es mit den Worten der bekannten deutschen Anti-Rassismus-Trainerin Tupoka Ogette zu sagen: «Wenn ich dir mit meinem Auto über die Füsse fahre, verändert sich dann dein Schmerz darüber mit meiner Aussage, ob ich es bewusst oder versehentlich gemacht habe?»
Reaktion Nummer 2: «Auch ich werde diskriminiert!»
Ich erlebe immer wieder, dass mein Gegenüber beim Thema Rassismus von eigener Diskriminierung erzählt. Das kann manchmal absurde Ausmasse annehmen.
Ein Kollege meinte einmal: «Rassismus? Also Diskriminierung? Kenne ich auch!» und erzählte, dass er wegen seines Basler Dialekts in einem anderen Kanton gehänselt worden sei. Ich musste laut lachen. Denn wegen eines Dialekts hat man nicht per se schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, bekommt keine Wohnung oder muss bei einer Polizeikontrolle öfter den Ausweis vorzeigen.
Reaktion Nummer 3: «Du beschimpfst mich als Rassisten!»
Das Wort «Rassismus» triggert und kann Wut auslösen. Ich habe einmal einem Freund gesagt, dass eine Aussage rassistisch sei – daraufhin wurde er wütend und meinte, ich solle ihn nicht als Rassisten beschimpfen.
«Sie werden wütend, darum ist es besser, nichts zu sagen», beschrieb mir eine junge Kopftuchträgerin diesen Umstand in einem Interview. Rassistisch sind ausschliesslich Neonazis oder Ultrarechte, so nehme ich die weit verbreitete Meinung wahr. Das ist ein grosser Irrtum.
Ein neues Verständnis aufbauen
Stefanie aus Biel (Nachname auf Wunsch nicht genannt) hat bereits viele rassismuskritische Bücher gelesen und Workshops zum Thema besucht. Sie erklärt das Unbehagen, das der Umgang mit Rassismus mit sich bringt: «Wir fühlen uns angegriffen, weil das Wort Rassismus so viel in uns auslöst und wir es überhaupt nicht sein wollen. Dann fangen wir an, uns zu wehren.»
Der Mechanismus sei oft der gleiche, sagt Stefanie. Die Leute kämen mit eigenen Erlebnissen und Vergleichen, etwa, dass auch sie schlimme Dinge erlebt hätten.
Es gelte, ein neues Verständnis aufzubauen, erklärt Anti-Rassismus-Beraterin Rahel El-Maawi: «Es geht um rassistische Aussagen und um rassistische Handlungen und nicht per se darum, dass man eine rassistische Ideologie aktiv vertritt.» Diese Unterscheidung ist zentral. Denn: Wir alle sind zu rassistischen Aussagen und Handlungen fähig, auch wenn wir im Grunde Rassismus ablehnen. Auch ich.
Sprachliche Diskriminierung besteht fort
Im Gespräch mit Rahel El-Maawi muss ich an rassistische Sprüche aus meiner indischen Community gegenüber Menschen aus Sri Lanka denken. Rassismus muss nicht per se von Weissen kommen: In meiner Kindheit benutzte ich das M-Wort für eine meiner Lieblingssüssigkeiten, den Schokokuss. So haben es mir meine indischen Eltern beigebracht und sich dabei nichts Böses gedacht. Heute benutze ich das M-Wort nicht mehr.
El-Maawi sei ebenfalls mit diskriminierenden Begrifflichkeiten aufgewachsen: «Ich bin Kind eines schwarzen Vaters und einer weissen Mutter. Meine Eltern haben mir eine Sensibilität zum Thema Rassismus mitgegeben. Sie haben auch probiert, mich vor Rassismus zu schützen. Andererseits haben auch sie mir rassistische Begrifflichkeiten mitgegeben. So wie ich gelernt habe, andere Begrifflichkeiten nicht mehr zu gebrauchen, habe ich auch gelernt, jetzt eben Schokokuss zu sagen.»
Wer bestimmt den Diskurs?
Einer, der Rassismus in seinen Texten benennt, ist der Berner Rapper Mabuyu. Der 23-Jährige thematisiert in seinen Texten immer wieder Rassismus, der ihm im Alltag begegnet: «Er hat Dreads, also ist er eh ein Dealer», beschreibt Mabuyu ein gängiges Vorurteil und beginnt, die Lyrics seines Track «Mixed Thoughts» zu rappen:
Es faht scho ah mit simple shit
Stig iz Tram
Nebe mir e freie Sitz
Mache platz
bechume nur e böse Blick
Aues vou
Aber z Grosi sitzt ganz sicher nid neb mi
Ihre Blick seit scho
I troue dem Nigga sicher nid
Was Mabuyu in seinen Texten so locker über die Lippen kommt, ist für Betroffene im Alltag schwierig in Worte zu fassen. Als ob es ohne den geschützten Rahmen der Musik unmöglich ist, über Rassismus zu sprechen und insbesondere Rassismus zu benennen.
Dem Rapper fällt auf, dass es im medialen Diskurs, aber auch in privaten Gesprächen immer wieder um Fragen geht, die für Betroffene von Rassismus vermutlich nicht an erster Stelle stehen: Ob Herr X nun wirklich das N-Wort nicht mehr sagen darf oder ob Frau Y ihre blonden Dreads abschneiden muss. «Abwertende Blicke, den unterschwellige Rassismus, den viele gar nicht mitbekommen – darüber sollte mehr gesprochen werden, anstatt darüber, ob jemand nun Dreads haben darf, oder nicht.»
Grundlagenstudie belegt Alltagsrassismus
Was Mabuyu anspricht, ist der institutionelle und strukturelle Rassismus in der Schweiz. Die Fachstelle für Rassismusbekämpfung hat unlängst die erste Grundlagenstudie zu strukturellem Rassismus in der Schweiz herausgegeben. Co-Autorin Denise Efionayi fasste die Erkenntnisse in einem SRF-Interview so zusammen: «Rassismus ist ein Alltagsphänomen in der Mitte der Gesellschaft. Es betrifft sehr viele Ebenen, Institutionen, Praktiken, Denkweisen. Das können wir an konkreten Beispielen empirisch belegen.»
Mabuyu kennt dies aus eigener Erfahrung, etwa wenn ihm der Zutritt zu öffentlichen Orten verwehrt wird. Er erzählt, wie er in einen Club wollte, seine Freundin drinnen schon auf ihn wartete, als er vor der Tür abgewiesen wurde: «Leute wie dich wollen wir hier nicht», habe ihm der Clubbesitzer gesagt, noch bevor er ein Wort mit ihm gewechselt habe. «Über solche Erfahrungen müssen wir sprechen», sagt Mabuyu.
Für Rahel El Maawi sei es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese strukturellen, aber auch institutionellen Ausgrenzungen abzubauen. Dazu müssen sie erst einmal zur Sprache gebracht werden.
Der erste Schritt ist anzuerkennen, dass es Rassismus gibt
Wie man persönlich mit Rassismus im Alltag umgehen kann, darüber machen sich die Teilnehmenden von Rahel El-Maawis Workshops Gedanken. Zeige sie ihnen die verschiedenen Abwehrmechanismen auf, komme erst ein Schmunzeln, dann ein Nicken: «Dann wird diskutiert, was ein anderer Umgang sein könnte», sagt El-Maawi. Immer wieder werde etwa die Frage «Woher kommst du?» diskutiert.
Ich habe mich kürzlich selbst über die «Woher-kommst-du?»-Frage geärgert, als mir ein Verkäufer auf dem Markt nicht glauben wollte, dass ich aus der Schweiz komme und mir dann noch ein Kompliment für mein tolles Deutsch machte. Ich bin hier geboren und aufgewachsen: Logo, kann ich Deutsch.
Immer wieder werde Rahel El-Maawi gefragt, wie sich ein Gespräch anders beginnen liesse, als mit der Frage nach der Herkunft. Sie frage dann zurück, wie die Leute denn sonst ein Gespräch eröffnen, «wenn eine Person ohne rassifizierende Merkmale vor ihnen steht». Die Antworten seien meist ähnlich: Es wird gefragt, wie sie das Theaterstück fanden oder es wird erzählt, was gestern passiert sei. Warum sollte das nicht auch mit anderen möglich sein?
Ich wünsche mir auch immer wieder, dass nicht meine Hautfarbe als erstes wahrgenommen und daraus dann ein Smalltalk gemacht wird.
Den Betroffenen besser zuhören
Für Stefanie aus Biel geht es im Umgang mit Rassismus vor allem darum, den Betroffenen zuzuhören und das eigene Unbehagen auszuhalten. Dass ihnen zugehört wird, wenn sie Rassismus ansprechen, wünschen sich auch drei junge Frauen, die mir von ihren Erfahrungen erzählen: «Wenn ich sage, dass der rassistische Witz nicht lustig ist, möchte ich, dass sie es verstehen und aufhören», erzählt eine von ihnen.
Zuhören klingt einfacher, als es ist. Es sei ein typisches Phänomen, dass nicht zugehört werde, sagt Anti-Rassismus-Beraterin Rahel El-Maawi. «Wenn wir als Gesellschaft mehr darüber diskutieren, dass es Rassismus gibt und dass Rassismus wirkt, dann kann Rassismus mit einer grösseren Selbstverständlichkeit benannt werden, weil es dann ein ‹Common Sense› ist, dass es rassistische Situationen gibt.»
Dieser «Common Sense» allein reiche aber nicht. «Wie gehen wir weiter, damit Rassismus nicht mehr so stark wirkt?» Das müsse der nächste Schritt sein, sagt Rahel El-Maawi.
Stefanie hat sich stark mit diesem zweiten Schritt auseinandergesetzt. Sie nehme unangenehme Gefühle als Indikator wahr, dass sich in ihr etwas bewegt: «Das Unwohlsein sitzt dort, wo ich ansetzen muss. Ich habe gelernt, dieses Unwohlsein nicht wegzudrücken, sondern hinzuschauen: Es zeigt mir auf, wo alte Denkmuster und Stereotypten verankert sind.»
Die Strukturen kennen und bearbeiten
Während meines Interviews mit Rahel El-Maawi möchte ein Hörer wissen, ob er jetzt keine Hautfarbe mehr sehen dürfe, weil das diskriminierend sei. Die Anti-Rassismus-Beraterin antwortet mit einem Zitat der afroamerikanischen Dichterin Pat Parker: «An meine weisse Freundin, die wissen will, wie Sie meine Freundin sein kann. Erstens vergiss, dass ich Schwarz bin. Zweitens vergiss niemals, dass ich Schwarz bin.»
Rahel El-Maawi interpretiert dieses Zitat wie folgt: «Wir müssen die strukturellen Bedingungen kennen, wir müssen sie bearbeiten und wir müssen gleichzeitig auch versuchen, in unserem eigenen zwischenmenschlichen Handeln Rassismus keinen Raum geben und keine Unterscheidung zu machen.»