Dröhnende Musik, Konfetti, Trubel, Jubel – und mittendrin Tatjana Haenni. Auf dem Rasen begegnen sich, von tausenden Fans angespornt, die Profifussballerinnen des New Yorker Clubs Gotham FC und Seattle OL Reign mit Weltstars wie Bruninha, Rose Lavelle, Svava Rós Gudmundsdóttir und Jessica Fishlock.
Auf den Rängen klatscht Tatjana Haenni hier mit Goalie-Legende Ashyln Harris ab und fachsimpelt da mit Fussball-Ikone Carli Lloyd, einer der Investorinnen von Gotham FC.
Haenni hat sich in der Fussballszene einen Namen gemacht
Tatjana Haenni kennt alle im Weltfussball, und alle kennen sie. Auf Anfang Jahr wurde die 56-jährige Bernerin zur Sportdirektorin der boomenden National Women’s Soccer League (NWSL) berufen.
«Tatjana ist eine Super Woman. Sie war unsere Wunschkandidatin», sagt Haennis neue Vorgesetzte, Liga-CEO Jessica Berman. «Ich schickte ihr den Stellenbeschrieb, und er kam voller Korrekturen und Anpassungen zurück. Spätestens da wusste ich: Sie ist die Richtige.»
«Von Sepp Blatter gefördert, von Gianni Infantino entlassen»
Haenni, in Bern als Tochter einer Wienerin und eines Schweizers aufgewachsen, hatte schon als Kind nur Fussball im Kopf. 1984 wurde sie Nationalspielerin und später Gründungspräsidentin der FC Zürich Frauen.
Während achtzehn Jahren leitete sie die Frauenfussball-Abteilung im Weltfussballverband FIFA. «Dort habe ich mich mit voller Kraft dafür eingesetzt, den Frauenfussball zu professionalisieren», sagt sie.
«Sepp Blatter hatte immer ein offenes Ohr für mich», besonders frühmorgens. «Zum Glück sind wir beide Frühaufsteher, ich ging immer als Erste in sein Büro.» Die Negativschlagzeilen über die FIFA? «Klar, es macht keinen Spass, wenn dein Betrieb derart ins Gerede kommt», sagt Haenni.
«Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt: Passe ich hierhin? Und sie stets mit Ja beantwortet, weil ich mir sicher war, etwas Gutes zu tun. Ich konnte viel zur Entwicklung des Frauenfussballs beitragen, weltweit. Ich wusste, dass das, was ich tat, Sinn ergab, deshalb konnte ich jeden Tag in den Spiegel schauen.»
Von Blatter gefördert – von dessen Nachfolger Gianni Infantino dann im Januar 2017 Knall auf Fall entlassen. Wie viele andere mit ihr. «Eines Morgens wurde mir beschieden, ich hätte ein paar Stunden Zeit, mein Zeugs zu räumen – und müsse dann gehen. Das hat mich verletzt, weil die Entlassung inhaltlich unbegründet und ungerechtfertigt war. Dennoch bin ich heute dankbar dafür, weil ich seither so viel Neues kennenlernte.»
So hätte sie Gelegenheit gehabt, sich persönlich zu verändern und beruflich weiterzuentwickeln. «Ausserdem ist es so: In Verbänden wird die Arbeit zunehmend sportpolitisch. Da geht es nicht mehr um die konkrete Arbeit auf dem Platz. Ich aber bin eine Macherin, will etwas bewegen. So gesehen, kann ich da, wo ich jetzt bin, mehr bewegen als bei der FIFA.»
In Downtown Manhattan wartet viel Arbeit auf Haenni
Mitten in New York ist Tatjana Haenni jetzt, wo die neuen Büros der NWSL Anfang Jahr bei Haennis Ankunft noch einer Baustelle glichen. Eben erst war die Liga von Chicago nach Manhattan umgezogen. Doch von gemächlicher Anlaufzeit keine Spur. Es gibt vom ersten Tag an viel zu tun.
Soccer, wie Fussball in den USA heisst, ist der beliebteste Sport für Mädchen. Vom College gehts für die Besten direkt in die NWSL. Spielerinnen wie Megan Rapinoe sind Lichtgestalten weit über das Spielfeld hinaus, sie mischen sich politisch ein, engagieren sich für Gleichstellung und die Rechte von Lesben, Schwulen und Transmenschen.
Die NWSL floriert
Die Liga floriert, jährlich kommen neue Klubs hinzu: Rund 100 Millionen Dollar braucht es, um ein Team in die Liga einzukaufen. Und es sind vor allem Frauen, die in den Frauensport investieren. In Los Angeles etwa finanzieren die ehemaligen Tennisgrössen Billie Jean King und Serena Williams sowie Hollywoodstar Natalie Portmann den Angel City FC.
Mit Leuten wie ihnen hat Tatjana Haenni zu tun. Sie ist im steten Austausch mit den Klubs und bestimmt die sportliche Ausrichtung der NWSL. Dafür verliess sie die Heimat und einen sicheren Job – ohne zu wissen, worauf genau sie sich einliess.
Das letzte Jahr brachte grosse Veränderungen mit sich. Meine Frau und ich haben uns getrennt und werden uns noch in diesem Jahr scheiden lassen.
Zuletzt war sie für vier Jahre als Direktorin Frauenfussball im Schweizerischen Fussballverband tätig. Haenni gilt als die Schweizer Funktionärin mit der grössten Erfahrung, den besten Kontakten und den mutigsten Ideen. Auch der Anstoss, die EM-Endrunde der Frauen 2025 in die Schweiz zu holen, ging von ihr aus.
«Mein Leben wurde auf den Kopf gestellt»
Nicht nur beruflich bedeutet New York für die 56-Jährige einen Neuanfang. Auch privat beginnt Tatjana Haenni ein neues Leben. Nicht nur ihre Familie und den Kreis enger Freundinnen und Freunde liess sie hinter sich, sondern auch ihre Ehe.
«Das letzte Jahr brachte grosse Veränderungen mit sich. Meine Frau und ich haben uns getrennt und werden uns noch in diesem Jahr scheiden lassen», erzählt Haenni in der Küche ihrer Wohnung in Jersey City. Das habe ihr Leben auf den Kopf gestellt.
Trübsal ist jedoch nicht ihr Ding, Haenni versucht der neuen Situation Positives abzugewinnen: «Das ist für mich eine grosse Chance, nicht nur beruflich, sondern auch als Mensch vorwärtszukommen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich in der Schweiz unruhig war und mich zu schnell ablenken liess.» Deshalb sei es in der neuen Heimat ihr Ziel, mehr zu sich zu kommen und es ruhiger anzugehen.
«Das hier ist sozusagen Tatjana Haenni 2.0»
Was sich gegenüber ihrem alten Wohnort Zürich, wo sie im Seefeld lebte, nicht verändert hat: Auch in den USA wohnt Haenni nahe am Wasser, direkt an einem kleinen Hafen. Vom Balkon ihrer Wohnung aus reicht der Blick bis zur Freiheitsstatue.
An einem sonnigen Frühlingsnachmittag blinzelt Haenni in die Sonne, schwärmt von der Wohnlage an dieser wunderschönen und ruhigen Ecke. Gleichzeitig wirkt sie nachdenklich, denn sie, die Gesellige mit regem Austausch in der Schweiz, ist nun allein in New York. Die stets souveräne Chefin auf einmal grüblerisch, die Laute ganz leise.
«Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es im ersten halben Jahr keine schwierigen Momente gab. Da spürte ich jeweils eine gewisse Schwere und fühlte mich allein.»
Es ist ein kompletter Neuanfang.
Was die Trennung von ihrer Frau angehe, habe die Distanz geholfen und es einfacher gemacht, das Alte hinter sich zu lassen. «Es ist ein kompletter Neuanfang.» Und dies mit 56 Jahren.
Tatjana Haenni ist in New York angekommen, angekommen im neuen Leben. Und ein bisschen auch bei sich selbst. «Stimmt schon», sagt sie und lächelt, «das hier ist sozusagen Tatjana Haenni 2.0».