Ihr Büro gleicht noch einer Baustelle. Kabel müssen verlegt werden, ein Teil der Möbel ist in Kartonschachteln verpackt. Dennoch fühlt sich Tatjana Haenni bereits wohl an der Madison Avenue, mitten in Downtown Manhattan. Eine Bernerin in New York – die 56-Jährige, die im Fussball schon fast alles erlebt hat und zuletzt vier Jahre Direktorin Frauenfussball im Schweizer Verband war, wagt einen Neustart. Seit Anfang Jahr ist die US-Profiliga der Frauen ihr Arbeitsalltag, der Big Apple ihr Lebensmittelpunkt.
Haenni muss NWSL-Skandal aufarbeiten
Ein Traumjob. Als Sportdirektorin ist Haenni verantwortlich für alle sportlichen Belange wie Spielbetrieb und Entwicklung der Liga. Wäre diese bloss nicht von einem Missbrauchsskandal erschüttert worden: Als Erstes muss sich Haenni am neuen Ort mit einem denkbar schwierigen Thema befassen. «Jeder neue Job auf einer solchen Stufe hat wohl stets schönere und weniger schöne Seiten», sagt sie.
Natürlich haben die Missbrauchsvorfälle eine negative Auswirkung auf das Image der Liga.
Sie gewinnt der Krise aber auch Positives ab: «Ich habe das Gefühl, dass ich hier am richtigen Ort bin. Vor zwei Jahren verlor eine Liga-Chefin noch den Job, weil sie dieser Sache weder nachgegangen war noch wusste, wie sie damit umgehen sollte. Heute sind wir an einem Punkt, an dem wir das Thema aktiv angehen.»
172-seitiger Bericht lässt tief blicken
Der Missbrauchsskandal im US-Frauenfussball beginnt 2021. Zwei Spielerinnen werfen ihrem Ex-Trainer sexuelle Übergriffe vor. Danach spricht eine Untersuchungskommission mit über 200 Fussballerinnen der Profiliga NWSL. Die Ergebnisse: schockierend. Ein 172 Seiten umfassender Bericht dreht sich um verbale und emotionale Gewalt, sexistische Sprache, unerwünschte sexuelle Annäherungen, Berührungen und erzwungenen Geschlechtsverkehr.
In Afrika und Südamerika sind Sexismus und die Diskriminierung von Spielerinnen noch gang und gäbe.
Missbrauch sei in der Liga tief verwurzelt und von enormer Tragweite, systematischer Missbrauch und sexuelles Fehlverhalten seien an der Tagesordnung. Erste Konsequenzen sind lebenslange Sperren von vier Trainern und hohe Bussen für mehrere Klubs. «Natürlich haben die Missbrauchsvorfälle eine negative Auswirkung auf das Image der Liga», räumt Haenni ein. «Aber wenn erst einmal ein solcher Tiefpunkt erreicht ist, kann man beginnen, die Situation zu entwickeln und zu verbessern.» Sprich: Es kann nur besser werden.
Klub-Verantwortliche erarbeiten Guidelines
Denn Haenni will handeln, nicht wegschauen. Eine erste Massnahme ist bereits umgesetzt. Liga, Trainer und Klubverantwortliche diskutierten an einem Seminar über Verhaltensformen – was liegt drin, was geht nicht? Es brauche einen sicheren Rahmen für Spielerinnen, so Haenni, damit diese sich getrauten, Bedenken zu äussern und keine Angst haben müssten, sich mitzuteilen.
Zudem müsse jeder Klub eine Stelle schaffen, die sich um die Sicherheit der Spielerinnen kümmert. «Diese Person ist im Klub dafür verantwortlich, dass die Spielerinnen ein sicheres Umfeld vorfinden. Die Person leitet Schulungen, erarbeitet Guidelines und setzt diese um.»
USA sollen Pionierarbeit leisten
Nicht nur sie und die Liga seien nun in der Verantwortung, die Situation für die Fussballerinnen zu verbessern, meint die neue Direktorin. Sondern vor allem auch die Klubs: «Es gibt Sachen, die gehen einfach nicht. Wir müssen proaktiv handeln und können nicht warten, bis irgendwo wieder ein Skandal an die Oberfläche dringt. Wenn wir diese Liga korrekt, professionell und gut führen möchten, gehört diese Arbeit schlicht dazu. Wir wollen verhindern, dass es weitere Missbrauchsvorfälle gibt.»
Und Haenni fügt an: «Ich bin überzeugt, dass wir die richtige Einstellung und den nötigen Willen haben, dies alles umzusetzen. Mit Hilfe der richtigen Fachexpertinnen und -experten können wir eine positive Zukunft gestalten.»
Womit die USA letztlich Pionierinnenarbeit leisten könnten. «Der Fingerzeig müsste nämlich in andere Ligen und Länder gehen», weiss Haenni. «Gerade in Afrika und Südamerika sind Sexismus und die Diskriminierung von Spielerinnen noch gang und gäbe. Ich wünschte mir, auch dies würde angegangen. Wir machen nun unsere Hausaufgaben hier», sagt Haenni in ihrem baustellenähnlichen New-Yorker Büro. «Aber die eigentliche Baustelle ist der Rest der Welt.»