«Die Einkommens- und Vermögensschere hat sich in den letzten zwanzig Jahren vor allem gegen oben geöffnet, bei den Superreichen», sagt Isabel Martínez. Die Wirtschaftswissenschaftlerin forscht an der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich zu Vermögensverteilung und sozialer Ungleichheit.
Die Reichen ziehen davon
Besonders bei den Vermögen zeigt sich, dass sie extrem ungleich verteilt sind. Das reichste Prozent besitzt 40 Prozent des Gesamtvermögens, das reichste Promille gar ein Fünftel aller Vermögen in der Schweiz. Wie gross der Unterschied zwischen den Superreichen und Herr und Frau Schweizer ist, erkennt man, wenn man die Vermögen – ohne Pensionskasse und dritte Säule – auf einem A4 Blatt darstellt.
Einer der Superreichen in diesem Land ist Hermann Hess. Laut dem Wirtschaftsmagazin Bilanz gehört er gar zu den 300 reichsten Schweizern. Der Immobilienunternehmer lebt und arbeitet in Amriswil im Kanton Thurgau.
«Mein Vermögen liegt wahrscheinlich im Bereich von 250 Millionen Franken», sagt er. «Das allermeiste davon ist aber investiert und hat in den letzten Jahren wegen der Tiefzinspolitik der Banken kräftig an Wert gewonnen.»
Wer hat, dem wird gegeben – und wer spart, kommt nicht vom Fleck. Betroffen von dieser Entwicklung ist vor allem der Mittelstand. Wer von seiner Arbeit lebt und sein Einkommen aufs Sparkonto legt, hat das Nachsehen.
Kaum Sparpotential trotz guter Ausbildung
Selbst Doppelverdiener wie das Ehepaar Schneider-Riehle haben Mühe, über die Runden zu kommen. «Wir arbeiten beide 80 Prozent und verdienen gemeinsam ungefähr 13’000 Franken pro Monat,» erzählt Rémi Schneider, der als Arzt in einer Gemeinschaftspraxis arbeitet. Auch seine Frau Stéphanie, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin für den Bund arbeitet, ist Akademikerin und verdient überdurchschnittlich gut. «Nach Abzug der Kosten für Miete, Gesundheitskosten und Kita bleiben uns Ende Monat trotzdem nur gut 500 Franken übrig.»
Grösster Ausgabenposten der jungen Familie ist die externe Kinderbetreuung. Die drei Sprösslinge gehen an drei Tagen in eine Kita. Kostenpunkt: Fast viertausend Franken pro Monat. Unterstützung erhält das Akademikerpaar keine – dafür verdienen sie zu gut.
«Wenn man sich das verfügbare Einkommen ansieht – also das Einkommen, welches nach Abzug von Steuern und Krankenkasse übrig bleibt – dann ist das seit 2013 stabil oder sogar leicht gesunken», sagt Ursina Kuhn. Die Sozialwissenschaftlerin gehört zum Team, das am Kompetenzzentrum für Sozialwissenschaften das jährliche Haushaltspanel erstellt.
Während in den letzten Jahren Börse und Immobilienmarkt Rekordmarke um Rekordmarke knackten, stagnierten die Einkommen der Normalverdiener. «Man kann deshalb nicht sagen, dass der Mittelstand vom Wirtschaftswachstum profitiert hat,» sagt die Sozialwissenschaftlerin.
Aber wie steht es um all diejenigen, die mit noch weniger auskommen müssen: Um Arbeitstätige, die am unteren Ende der Einkommensskala zu finden sind? «Die gute Nachricht ist, dass die Armutsquote in der Schweiz relativ stabil ist – und zudem im internationalen Vergleich tief», sagt Ungleichheitsforscherin Isabel Martínez.
Alleinerziehende in der Armutsfalle
«Mein Einkommen reicht nie bis zum nächsten Zahltag, meist geht mir schon viel früher das Geld aus!», erzählt Sonja Oberer. Als alleinerziehende Mutter gehört sie zu der Bevölkerungsgruppe, die am stärksten armutsgefährdet ist.
Etwas über viertausend Franken hat sie zur Verfügung, um sich und ihre drei Söhne durchzubringen. Sie arbeitet Teilzeit im Büro der katholischen Kirchgemeinde an ihrem Wohnort in Trübbach (SG). Um das schmale Budget etwas aufzupeppen, geht sie zusätzlich noch putzen.
Für Menschen wie Sonja Oberer hat die Corona-Pandemie die Situation zusätzlich verschärft. Homeoffice, das gibt es in vielen Tieflohn-Bereichen wie der Reinigungsbranche und der Gastronomie nicht. Kurzarbeit trifft Werktätige mit geringem Einkommen besonders hart.
«Vorübergehend wird die Corona-Pandemie sicher zu einem Aufklappen der Einkommensschere führen», zieht Wirtschaftswissenschaftlerin Isabel Martínez eine erste Bilanz. Auch bei den Vermögen wird sich der Trend wohl nicht umkehren. Laut Berechnungen des Wirtschaftsmagazins Bilanz haben die 300 reichsten Schweizer in der grössten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit sogar noch gut 6 Milliarden zugelegt und besitzen nun gemeinsam über 706 Milliarden Franken.
Gleichzeitig stehen Bedürftige in der Schweiz für Gratis-Essen an. «Die Krise trifft Menschen in prekären beruflichen Situationen ganz besonders», ist Isabel Martínez überzeugt: «Die Corona-Pandemie wird bestehende Ungleichheiten wohl noch verstärken.»