SRF: Uwe Vormbusch, Sie sagen, wir leben heute in einer Herrschaft der Zahlen. Wie ist es dazu gekommen?
Uwe Vormbusch: Wichtig war sicher die Einführung ökonomischer Kennziffern in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das begann in den USA, bei den Eisenbahngesellschaften und anderen Grossunternehmen. Diese Unternehmen waren riesig und räumlich weit verzweigt, mit Zehntausenden von Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden. Da stellte sich die Frage: Wie kann man solche Unternehmen koordinieren? Die Lösung waren neue Steuerungsinstrumente, eben die Kennziffern.
An welche Kennziffern denken Sie da?
Zum Beispiel an den so genannten Return on Investment, also das Verhältnis zwischen Gewinn und eingesetztem Kapital. Damit konnte man zum ersten Mal verschiedene Unternehmenseinheiten anhand einer einzigen Zahl miteinander vergleichen. Das Management konnte also sehen, welche Abteilung die höchste Kapitalrentabilität aufweist. Dieses Verfahren hat sich im Grunde weltweit durchgesetzt. Mittlerweile kennen wir die Steuerung mit Kennziffern auch in der Politik und in der Medizin, zum Beispiel mit den Fallpauschalen.
Kennziffern gibt es auch in der Bildung, mit den Ranglisten von Hochschulen etwa. Oder noch elementarer: mit Schulnoten. Da vergleicht man ja auch, wie viel man gelernt hat und was dann dabei herausgekommen ist.
Ja, das stimmt. Die ersten Schulnoten sind Ende des 18. Jahrhunderts in Eliteschulen wie Cambridge vergeben worden, ihm Rahmen von Leistungstests von Studenten. Das war ein historisch wichtiger Schritt, weil man damit begonnen hat, auch Dinge ausserhalb der Wirtschaft zu quantifizieren. In diesem konkreten Fall: den Menschen und seine persönliche Leistungsfähigkeit. Mit Schulnoten werden Menschen direkt in Konkurrenz zueinander gestellt, und zwar mittels Zahlen. Das gehört zu unserem kapitalistischen System dazu. Wir beteiligen uns alle an diesem Zahlenspiel. Heute verstehen wir uns und unseren Körper zunehmend selbst als eine Art Unternehmen, das man optimieren sollte.
Wie meinen Sie das?
Das kann ich am Beispiel der «Quantified Self»-Bewegung erklären. Sie ist auf Anregung von chronisch kranken Menschen entstanden, die keine Heilung fanden. Diese Menschen begannen, sich selbst zu vermessen, mit digitalen Hilfsmitteln. Sie zeichnen ihre Bewegungen auf, protokollieren ihre Symptome und ihre Ernährung. So wollen sie ihre Krankheit besser in den Griff bekommen. Mittlerweile hat sich diese Idee in der Gesellschaft ausgebreitet. Viele Menschen erfassen ihr Leben heute via Smartphone, um sich selbst zu optimieren. Sie zählen Schritte und Kalorien oder quantifizieren auch andere Dinge wie Sex oder Gefühle.
Gefühle quantifizieren mit dem Smartphone, wie soll das gehen?
Das ist eigentlich ganz einfach. Sie laden eine App herunter, die zeigt Ihnen verschiedene Ikons zu Emotionen – glücklich, traurig, wütend und so weiter. Und dann geben Sie regelmässig auf einer Skala von 1 bis 10 an, wie Sie sich gerade fühlen. Diese emotionalen Kennziffern können Sie natürlich auch auf sozialen Medien wie Facebook teilen. Und das tun auch viele Leute.
Auf sozialen Medien kommt man ja ohnehin in die Zahlenmühle. Da wird jeder «Like» gezählt und jeder Klick. Es fallen gigantische Zahlenmengen an – Stichwort «Big Data». Zeigt sich auch darin die Herrschaft der Zahlen?
Bestimmt, denn ohne Zahlen kein «Big Data». Das Problem von Big Data ist allerdings: Wie verknüpfe ich die gesammelten Zahlen, um etwas herauszufinden? Das ist gar nicht so leicht. Kommt hinzu, dass Zahlen nicht immer so eindeutig sind, wie wir meinen. Was bedeutet zum Beispiel eine Arbeitslosenquote von 3,5 Prozent? Das hängt ganz von der Berechnungsgrundlage ab. Darum sollten wir in der Kommunikation von Zahlen immer transparent machen, wie wir genau zu diesen Zahlen kommen.