Auf dem Foto ist ein junger Mann in Windeln zu sehen, mit amputierten Beinen und wundem Rücken. Die Worte im Brief sind tragisch: «Ich bin voller Hoffnung, von Ihnen erhört zu werden», schreibt der 23-jährige Jewgenij Iremadse aus der Ukraine.
Empfänger dieses Briefes ist Victor Ofner: «Seine Familiengeschichte besteht aus einer Katastrophe nach der anderen.» Rasch merkt er: Hinter diesem Brief steht nicht ein einzelner Mensch, sondern ein Hilfswerk, die SOS Gerasjuta Stiftung.
Persönlicher Hilferuf ist Werbemasche
Was nach einem persönlichen Hilferuf aussieht, ist in Wahrheit eine Werbemasche. «Kassensturz» liegen hunderte solcher Bettelbriefe vor. Sie weisen alle den gleichen Absender aus: Den schwerkranken Jewgenij Iremadse aus Winogradnoje in der Ukraine. Die Briefe sind aufs Wort identisch und in verschiedensten Handschriften verfasst.
Schon 1997 berichtete die Sendung Quer, wie das Hilfswerk SOS Gerasjuta mit handgeschriebenen Briefen um Spendengelder warb und dabei ungehörig auf die Tränendrüsen drückte.
Darin stand: «Ich bin schwanger und möchte das Kind nicht abtreiben lassen. (…) Ich höre sein klopfendes Herzchen. Wie mein noch nicht geborenes Kind mir sagt: Mama, töte mich nicht.»
Etikettenschwindel mit rotem Kreuz
2002 verschickte das Hilfswerk Briefe von Eltern schwer kranker Kinder aus der Ukraine. Sie warben mit verzweifelten Worten um Spendengelder: «Helfen sie bitte meinem armen Kind welches einen Herzfehler hat und bleiben sie nicht gleichgültig zu meiner Not.» Die Couverts zierte ein rotes Kreuz. Ein Etikettenschwindel. Das Hilfswerk musste es nach der Sendung von den Umschlägen entfernen.
Bei der Zertifizierungsstelle für Wohlfahrtsunternehmen (Zewo) beklagen sich seit Jahren Anrufer über die Werbemasche von SOS Gerasjuta. Ein Gütesiegel trägt die Stiftung nicht: «Wir erwarten von Hilfswerken, dass sie sachlich informieren und die Spender nicht unter emotionalen Druck setzen», sagt Martina Ziegerer von Zewo.
Gründer und Geschäftsleiter der Stiftung SOS Gerasjuta ist Sergej Gerasjuta. Gegenüber «Kassensturz» rechtfertigt er seine Sammelmethode. Sie sei in den Statuten verankert und von der Stiftungsaufsicht des Bundes genehmigt worden. «Der Fall von Jewgenij Iremadse ist sehr tragisch. Wir unterstützen ihn mit Lebensmitteln, Medikamenten und finanzieller Hilfe.» Insgesamt erhalte Iremadse 200 bis 500 Franken pro Monat.
Hunderte schreiben Bettelbriefe ab
Die Briefe schrieb Jewgenij Iremadse nicht selbst. Den Text verfassten laut Sergej Gerasjuta Mitarbeiter des Hilfswerkes nach Gesprächen mit ihm. Hunderte Ukrainer schreiben die Briefe von Hand ab. Dafür erhalten sie laut Angaben von Gerasjuta Geld, Medikamente und Bücher.
Im Jahresbericht der Stiftung steht nur teilweise, wer alles vom Spendengeld profitiert. Letztes Jahr spendeten Schweizer über 1 Million Franken. Einen Teil davon hat das Hilfswerk an bedürftige Ukrainer wie Jewgenij Iremadse ausbezahlt. Geld erhielten auch Spitäler und Kinderheime. Die genauen Summen sind im Geschäftsbericht nicht deklariert.
Zu viel Geld für Administration
40 Prozent der investierten Spendengelder verbraucht die Stiftung für Administration und Sammelaufwand. «Das ist zu viel», sagt Martina Ziegerer von der Zewo: «Für Fundraising und Administration sollten nicht mehr als 35 Prozent eingesetzt werden.» Im Durchschnitt betrage der Anteil bei Hilfswerken mit Zewo Gütesiegel rund 20 Prozent.
«Wir haben zu wenig Spenden, dass wir zu den Zahlen kommen, die die Zewo sehen will», rechtfertigt sich Sergej Gerasjuta. «Wir sind eine kleine Stiftung, können nicht mit grossen Hilfswerken konkurrieren.» Sie hätten Fixkosten zu begleichen, der Rest gehe in die Ukraine.