Ein neues Medikament weckt Hoffnungen bei Patienten mit Multiple Sklerose (MS), einer schweren Erkrankung des Nervensystems. Das Präparat Tecfidera des amerikanischen Pharma-Riesen Biogen Idec soll im Herbst 2013 in der Schweiz erhältlich sein. Die Kosten für die Jahresdosis stehen erst für die USA fest. Der offizielle Preis beträgt stolze 55 000 Dollar.
Altbewährter Wirkstoff
Doch das neue Medikament enthält einen alten Wirkstoff: Dimethylfumarat oder DMF. Er wurde vor allem gegen Schuppenflechte eingesetzt. Zufällig entdeckte ein Arzt, dass DMF sehr wirksam gegen MS eingenommen werden kann. Verschiedene Apotheken stellen daher mit DMF seit längerem ein Medikament gegen MS her. Die Berner Zähringer-Apotheke zum Beispiel produziert seit eineinhalb Jahren für etwa ein Dutzend MS-Patienten DMF-Kapseln in verschiedenen Dosierungen.
Für Apotheker Silvio Ballinari ist klar: Sein Medikament gegen MS ist mit dem neuen Präparat von Biogen identisch: «Dimethylfumarat ist eine definierte Substanz, sie ist garantiert gleich.» Pro Jahr kostet das Medikament für einen Patienten 1860 Franken. Also nur ein kleiner Bruchteil von dem, was das Präparat von Biogen in den USA kostet.
Gute Erfahrungen mit Apotheker-Präparat
MS-Patient Lorenz Trachsel bezieht seine Kapseln bei Apotheker Ballinari. Er profitiert von der guten Wirksamkeit des Medikaments: «Früher hatte ich im Winter zwei bis drei Schübe. Seit ich Dimethylfumarat nehme, habe ich keinen Schub mehr.»
«Kassensturz» besuchte das St. Josef-Hospital in Bochum. Seit Jahrzehnten ist hier bekannt, dass DMF gegen Schuppenflechte hilft. Peter Altmeyer ist Professor für Dermatologie und langjähriger Klinikdirektor. Er leitete die Studien mit DMF zur Behandlung von Schuppenflechte. Zufällig entdeckten die Forscher, dass DMF auch gegen MS hilft.
«Ein Schnäppchen für Biogen»
Als klar wurde, dass DMF auch gegen Multiple Sklerose wirkt, kaufte Biogen Idec die Lizenzen und finanzierte die folgenden klinischen Studien. So kam Biogen äusserst günstig zu einem neuen MS-Medikament mit Milliarden-Potential. Professor Peter Altmeyer erklärt: «Das war für die Firma Biogen ein billiges Schnäppchen, das sie hier aufgegriffen haben. Sie konnten sich auf eine riesige Datenlage bei den Patienten mit Schuppenflechten verlassen.»
«Kassensturz» will von Biogen Idec wissen, warum das Unternehmen einen altbewährten Wirkstoff plötzlich so teuer verkauft. Die Firma schreibt «Kassensturz»: Nur das Präparat von Biogen habe in Studien seine Wirksamkeit und Sicherheit bewiesen und verfüge über «eine patentierte Formulierung mit magensaftresistenten Mikrotabletten». Das Präparat von Biogen habe ein vollständiges Entwicklungsprogramm durchlaufen. «Aus all diesen Gründen ist ein Vergleich von DMF mit lokal in Apotheken abgefüllten Tabletten nicht statthaft.»
Wie viel Tecfidera von Biogen in der Schweiz kosten wird, ist noch unklar. Festgelegt wird der Preis durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG). Krankenkassen wie die Helsana befürchten, dass Biogen auch in der Schweiz einen überrissenen Preis für DMF verlangen wird. Guido Klaus, Gesundheitsökonom bei Helsana und Mitglied der Arzneimittelkommission, findet das Beispiel mit dem hohen Preis für den alten Wirkstoff Dimethylfumarat stossend.
Wirtschaftlichkeitsprinzip verletzt?
Er kritisiert: «In diesem konkreten Fall wird ja auf Basis eines alten Wirkstoffs ein neues Medikament lanciert, das allenfalls x-fach teurer sein soll.» Da frage es sich, ob nicht das Wirtschaftlichkeitsprinzip des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) verletzt werde. Klaus erklärt weiter: «Eine Möglichkeit wäre, dass Medikamente auf Basis von alten Wirkstoffen deutlich günstiger sein müssen als Neuentwicklungen.»
Nicht nur für Biogen ist das neue MS-Medikament lukrativ. Das Patent für die Anwendung von DMF gegen Schuppenflechte gehörte der kleinen Schweizer Firma Fumapharm, gegründet vom Apotheker Hans-Peter Strebel. 2006 kaufte Biogen Fumapharm für 220 Millionen US$. Doch das ist noch nicht alles: Die Aktionäre von Fumapharm erhielten 2012 eine Nachschlagzahlung von 761 Millionen US$ - der Anteil an den zukünftigen Gewinnen mit dem MS-Medikament.
Information: So kommen die Preise von kassenpflichtigen Medikamenten zu Stande:
Das BAG legt den Preis fest. Zuerst macht das Pharmaunternehmen einen Preisvorschlag. Das BAG erstellt dann einen therapeutischen Quervergleich. Wie viel kostet ein Medikament mit ähnlicher Wirkung? Das Pharmaunternehmen kann dem BAG mit Studien zeigen, dass das Medikament eine Innovation ist, damit es einen möglichst hohen Preis erhält.
Zudem führt das BAG einen Auslandpreisvergleich durch. Es berücksichtigt die Preise von Deutschland, Dänemark, Holland, England, Frankreich und Österreich. Je höhere Preise der Konzern im Ausland erhält, desto höher der Preis in der Schweiz.
Beim Auslandpreisvergleich berät die Arzneimittelkommission das BAG. Über diese kann die Pharmaindustrie Einfluss nehmen. Die Herstellungskosten oder die Gewinne der Pharmaindustrie sind bei der Preisfestsetzung kein Thema.