Xavier ist 17 Jahre alt und hat diesen Sommer seine Lehre als Bäcker-Konditor begonnen. Man sieht es ihm nicht an, doch er hat immer wieder epileptische Anfälle: Dann verkrampft sich sein Körper, er fällt zu Boden, seine Augen verdrehen sich.
Nach mehreren Jahren Suche hatte Xavier endlich ein passendes Medikament gefunden, mit dem er sechs Monate ohne Anfälle und ohne Nebenwirkungen leben konnte. Vor gut drei Monaten war dieses Medikament plötzlich nicht mehr lieferbar.
Gleicher Wirkstoff – drastische Folgen
Xavier musste wechseln auf ein Präparat mit dem gleichen Wirkstoff, aber von einem anderen Hersteller. «Seit dem Medikamentenwechsel habe ich wieder etwa zwei Anfälle pro Monat – den letzten hatte ich gerade gestern bei der Arbeit», erzählt der junge Mann.
Wegen der Medikamentenumstellung wieder mit mehr Epilepsieanfällen leben zu müssen, bedrückt Xavier. Im Alltag sei er weniger unbeschwert unterwegs: «Auf dem Perron laufe nicht mehr so nahe am Bahngleis wie früher.»
Engpässe bei Medikamenten auf Höchststand
Die Lieferengpässe von kassenpflichtigen Medikamenten erreichten am 30. Dezember mit 1005 betroffenen Packungen ein Allzeithoch – es fehlen sogar mehr Packungen als während der Pandemie. Betroffen sind rund 8% aller Medikamente, welche die Krankenkassen übernehmen. Spitalapotheker Enea Martinelli erhebt diese Zahlen. Er führt – als Privatinitiative – eine Datenbank über Lieferengpässe bei kassenpflichtigen Arzneimitteln.
Die Gründe für die Zunahme seien vielschichtig: Bei Fiebermitteln bestehe im Moment ein erhöhter Bedarf wegen einer Welle von Infektionen.
Gerade hat eine Studie gezeigt, dass bei vierzig Prozent der Lieferengpässe in Irland ein einziger Wirkstofflieferant im Hintergrund steht.
Doch das komme zu grundlegenderen Problemen hinzu, zum Beispiel der Abhängigkeit von wenigen Herstellerfirmen: «Gerade hat eine Studie gezeigt, dass bei vierzig Prozent der Lieferengpässe in Irland ein einziger Wirkstofflieferant im Hintergrund steht. Meistens sitzt der in China. Wenn dort irgendetwas passiert, kann man nicht ausweichen.»
Kindermedikamente besonders betroffen
Die Engpässe spürt auch Kinderarzt Stefan Roth: Die fehlenden Schmerz- und Fiebermittel könne man teilweise noch ersetzen. «Es fehlen aber auch Antibiotika gegen relevante Infektionen. Da können wir im Moment noch ausweichen – auf nicht ganz optimale, aber funktionierende Antibiotika.» Roth zeigt sich besorgt darüber, wo die Entwicklung noch hinführen könnte.
Kinder brauchen besondere Medikamente: Sirup oder Zäpfchen, weil sie keine Tabletten schlucken können, in niedrigeren Dosierungen. Diese Arzneimittel sind besonders von Engpässen betroffen. Denn mit rund 70'000 Kinder pro Jahrgang sei die Schweiz ein verhältnismässig kleiner Markt. Dazu
kämen hohe Hürden: Eine gesonderte Zulassung für die Schweiz, mehrsprachige Beipackzettel, separate Verpackung. Das habe bei manchen Produkten dazu geführt, dass sich der Hersteller vom Schweizer Markt zurückgezogen habe, berichtet Stefan Roth.
Vorbeugen und abfedern
Damit die Schweiz Medikamentenengpässen vorbeugen und sie besser abfedern könne, lohne sich ein Blick nach Belgien, sagt Enea Martinelli: «Dort hat der Staat eine Kommission eingesetzt, die beurteilt, ob ein Medikament wichtig ist oder nicht. Dann wird angeschaut, wie weit der Preisdruck auf dem einzelnen Produkt gehen kann. Und wenn ein Medikament fehlt, unterstützt der Staat Ärztinnen und Apotheker, mit dem Problem umzugehen.»