Zum Inhalt springen

Praktikumswesen Schweiz Praktikum – Ausbildung oder Ausbeutung?

Das Schweizer Praktikumswesen ist gesetzlich kaum reguliert. Arbeitgebende können diese Lücke ausnutzen.

In der Schweiz gibt es rund 40'000 bezahlte Praktikumsstellen. Potenziell wertvolle Ausbildungen, die Türen öffnen. Doch drei junge Menschen berichten Kassensturz, wie sie im Praktikum ausgebeutet statt ausgebildet wurden.

Juristisches Sorgenkind

Das Schweizer Praktikumswesen ist eine rechtliche Grauzone. Es gibt keine gesetzlichen Regulierungen für Praktikumsdauer, -lohn und ausbildung. Für alle Praktika gilt aber: Man muss etwas lernen können.

Wann ist ein Praktikum missbräuchlich?

Box aufklappen Box zuklappen

Lohn

  • Wenn Sie nicht ausgebildet werden und arbeiten wie eine volle Arbeitskraft. Sie hätten in diesem Fall Anspruch auf den vollen Lohn.
  • Wenn Ihr Lohn tiefer ist als der branchenübliche Betrag.
  • Wenn Alter, Ausbildung und Berufserfahrung nicht angemessen im Lohn berücksichtigt werden.

Ausbildung

  • Wenn Sie im Praktikum nichts lernen. Idealerweise ist Ihre Ausbildung vertraglich festgehalten und durch ein Praktikumskonzept strukturiert.
  • Wenn Sie gar nicht oder schlecht betreut werden. 10 bis 20 Stellenprozent Ihrer Betreuungsperson sollten in Ihre Ausbildung fliessen.

Dauer

  • Wenn Ihr Praktikum länger als ein Jahr dauert. Idealerweise ist ein Praktikum zwischen zwei bis sechs Monate lang.
  • Wenn Sie beim gleichen Arbeitgeber und Bereich für mehrere Praktika hintereinander eingestellt werden. Solche Kettenverträge sind grundsätzlich verboten.

Den ganzen Tag nur Fliessbandarbeit verrichten oder abliefern wie eine volle Arbeitskraft, beides ist missbräuchlich. Tiefe Löhne sind nur gerechtfertigt, wenn Arbeitgebende ihre Praktikantinnen und Praktikanten tatsächlich ausbilden und dafür Ressourcen investieren.

Ungleichgewicht der Mächte

In missbräuchlichen Arbeitsverhältnissen können sich Praktikantinnen und Praktikanten kaum wehren. Die Rechtslage ist dürftig und ihre Verhandlungsmacht gering, sagt Roger Rudolph, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Zürich. Wer die Konditionen der Arbeitgebenden nicht akzeptiert, setzte die Stelle aufs Spiel. Es gäbe immer eine Person, die den Job für weniger macht.

Missbräuchliches Praktikum. Was tun?

Box aufklappen Box zuklappen

  • Prüfen Sie Ihren Arbeitsvertrag. Rechtlich ist ein Praktikum ein befristetes Arbeitsverhältnis gemäss OR Art. 319. Da es für Praktika aber kaum Regulierungen gibt, kommt es auf deinen individuellen Vertrag an, auf welche Rechte du dich berufen kannst.
  • Sie können sich an Gewerkschaften oder Verbände wenden. Sie beraten, unterstützen und vertreten vor kostenlosem Arbeitsgericht. Ziehen Sie rechtliche Schritte in Betracht, sollten Sie Beweise sammeln. Klagen können Sie beispielsweise auf Lohn.

Dazu kommt: Praktikantinnen und Praktikanten verbünden sich kaum, um ihre Rechte einzufordern. Zu absehbar sind die Arbeitsverhältnisse und zu gross ist die Angst, sich die eigene Zukunft zu verbauen.

Scheinpraktika

Die Gewerkschaft Travail Suisse will Missstände im Praktikumswesen bekämpfen. Sie fordert verbindliche Mindestregulierungen von Praktikumsdauer, Lohn und Ausbildung. Thomas Bauer, Verantwortlicher für Wirtschaftspolitik, erklärt, wieso Arbeitgebende unter dem Tarnmantel von Praktika heute Lohnkosten sparen können:

Für Einstiegsstellen braucht man, wie für ein Praktikum, keine Berufserfahrung. Man erhält aber auch keine Ausbildung und darum den vollen Lohn.

Die Anzahl Praktika hat sich seit den Neunzigerjahren verdoppelt. Nach Corona haben Praktikumsstellen zwar abgenommen, die Probleme aber, sind geblieben.

Politische Forderungen

Es fehlen zuverlässige Studien und Informationen über das Praktikumswesen in der Schweiz. Darum ist es schwierig, das Ausmass der Probleme zu erfassen. Die Dunkelziffer missbräuchlicher Praktika ist vermutlich gross, meint Nationalrat Samuel Bendahan. Er will die Position von Praktikantinnen und Praktikanten stärken.

Seine Motion wurde 2022 von der bürgerlichen Mehrheit abgelehnt. Zu aufwändig und kostspielig sei die Umsetzung, hiess es damals. Doch Bendahan hält an seinen Forderungen fest und verlangt mehr Informationen über die Situation von Praktikantinnen und Praktikanten.

Wenn das genaue Ausmass des Problems klar sei, würde es einfacher, gezielte Massnahmen zu ergreifen. Er ist überzeugt, dass geregelte Praktika der Gesellschaft mehr nützen als sie kosten.

Auch Saras* Praktikumserfahrung zeigt, es gibt Handlungsbedarf. Als Unterassistenzärztin arbeitete sie auf der Traumatologie oft mehr als 50 Stunden in der Woche. Sie war verantwortlich für Patientinnen und Patienten und eine volle Arbeitskraft. Die Ausbildung kam zu kurz.

Fazit: mehr Schutz

Ein Praktikum kann eine wichtige und gute Ausbildung sein. Ohne verbindliche Regulierungen können Praktikantinnen und Praktikanten aber als billige Arbeitskräfte missbraucht werden. Sie müssen geschützt werden, denn sie sind immer in der schwächeren Position.

*Name geändert

«Kassensturz» ist an Ihrer Meinung interessiert

Box aufklappen Box zuklappen

Espresso, 7.1.25, 8:10 Uhr

Meistgelesene Artikel