Angestellte im Detailhandel verdienen durchschnittlich 4000 Franken pro Monat. Teilzeitarbeit ist in dieser Tieflohnbranche verbreitet – dann kommt Ende Monat noch weniger Geld aufs Konto.
Julien Mayor ist Gewerkschaftssekretär bei Unia. Er weiss: Viele Angestellte im Detailhandel haben Angst, dass sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können oder sich extrem einschränken müssen. Mayor erklärt, der Teuerungsausgleich sei notwendig, denn die steigenden Preise beunruhigten viele Detailhandelsangestellte. Darüber hinaus drohen Mehrausgaben wegen der steigenden Krankenkassenprämien und höheren Energiepreisen.
Letzte Woche forderte der Schweizerische Gewerkschaftsbund darum Lohnerhöhungen: Für alle den vollen Teuerungsausgleich von 3 Prozent und 1 Prozent mehr Lohn. Dazu eine zusätzliche Lohnerhöhung von 1 Prozent in Branchen mit Nachholbedarf, beispielsweise im Detailhandel. Total: 4 bis 5 Prozent mehr Lohn.
Steigende Inflation: 3,5 Prozent im August 2022
Seit mehr als einem Jahr steigen die Preise. Im August betrug die Inflation 3,5 Prozent. Das heisst: Ein bestimmter Warenkorb kostet 3,5 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Für dieses Jahr gehen Fachleute von einer durchschnittlichen Teuerung von rund 3 Prozent aus.
Die Inflation reisst allen Konsumenten und Konsumentinnen ein Loch ins Portemonnaie. Am härtesten trifft es über 700'000 Menschen, die jetzt schon arm sind, erklärt Oliver Hümbelin, Professor an der Fachhochschule Bern, beispielsweise eine Familie mit zwei Kindern, deren Einkommen unter 4000 Franken liegt.
80'000 Menschen von Armut bedroht
Mit den steigenden Lebenshaltungskosten könnten neu auch Haushalte in finanzielle Engpässe kommen, die bis jetzt knapp über der Armutsgrenze waren. Oliver Hümbelin schätzt aufgrund einer von ihm gemachten Studie, dass schweizweit rund 80'000 Menschen davon betroffen sein könnten. Er sagt: «Das sind oftmals klassische Familien, die Einkommen haben, aber auch hohe Ausgaben für Miete, Krankenkasse und Lebensmittel. Mit der Teuerung wird es für diese Menschen zunehmend eng.»
Arbeitnehmende an Unternehmensgewinnen beteiligen
Die Gewerkschaften begründen ihre Lohnforderungen auch mit der guten Wirtschaftslage, Arbeitnehmende müssten an den Gewinnen der Unternehmen beteiligt werden.
Michael Siegenthaler, Arbeitsmarktexperte an der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich sagt, die Wirtschaft könne sich Lohnerhöhungen leisten, denn im ersten Halbjahr hätte sie einen Boom erlebt. Allerdings sei unsicher, wie sich die Lage im Winter entwickeln wird.
Ein weiteres Argument der Gewerkschaften für Lohnerhöhungen ist die Arbeitsproduktivität: Diese ist laut Bundesamt für Statistik in den Jahren 2020 und 2021 um 1,4 respektive um 1,7 Prozent gestiegen. Die Arbeitsproduktivität gibt an, wie viel Wertschöpfung ein Arbeitnehmender pro Stunde generiert.
Eine gestiegene Arbeitsproduktivität bedeute, dass ein Arbeitnehmender innerhalb von einer Stunde mehr Wertschöpfung für das Unternehmen generiert, erklärt Michael Siegenthaler.
Da mache es durchaus Sinn, die Forderung nach höheren Löhnen in Zusammenhang mit Produktivitätssteigerung zu stellen. Er schränkt aber ein, die Gewerkschaften würden hier mit einem Durchschnittswert rechnen. Nicht in allen Branchen und nicht in allen Betrieben sei die Produktivität so stark gestiegen.