Vor elf Jahren ging Madeleine Scholl aus Rorschacherberg zum ersten Mal zur Mammografie-Untersuchung. Sie hatte nie Beschwerden, wollte einfach sicher sein, dass sie keinen Tumor hat. Sie weiss: Jede zehnte Frau erkrankt in ihrem Leben einmal an Brustkrebs, 5000 Frauen jedes Jahr. In ihrem Alter ist dieser bösartige Tumor die häufigste Todesursache.
Die Siebzigjährige ist überzeugt, dass eine regelmässige Röntgenuntersuchung Frauen vor dem Brustkrebstod retten kann. Madeleine Scholl: «Ich habe in meinem Umfeld festgestellt, als ich 60 Jahre alt wurde, dass Fälle von Brustkrebs vorgekommen sind. Das hat mich nachdenklich gemacht und mich animiert, die Vorsorge auch zu machen.» Natürlich gehe man immer in Gedanken dorthin, dass einem nichts fehle und man heil und froh wieder herauskomme, sagt Scholl.
Alle sechs Stunden ein Todesfall
Wie sie gehen viele Frauen regelmässig zur Brustkrebs-Vorsorgeuntersuchung. Mit einer Mammografie erhoffen sie sich, dass ein Tumor früh entdeckt wird und sie so bessere Heilungschancen haben. Bisher müssen Frauen in der Deutschschweiz diese Röntgenuntersuchung selbst bezahlen, die Krankenkassen leisten nichts daran. Denn in den meisten Kantonen fehlt ein sogenanntes Screening-Programm, das die Qualität der Mammografie-Untersuchungen kontrolliert.
Als erster Kanton in der Deutschschweiz plant St. Gallen eine solche Reihenuntersuchung. Alle Frauen ab 50 werden aufgefordert, ihre Brüste regelmässig röntgen zu lassen. Noch dieses Jahr ist es soweit. Gaudenz Bachmann, Leiter des kantonalen Amtes für Gesundheitsvorsorge, erwartet, dass viele Frauen vom neuen Programm profitieren. «Jedes Jahr sterben über 1300 Frauen an Brustkrebs in der Schweiz. Das sind alle sechs Stunden ein Todesfall durch Brustkrebs. Wenn wir jetzt ein Screening-Programm in St. Gallen durchführen und eine gute Teilnahme haben, dann gehen wir davon aus, dass pro Jahr wir sechs, sogar bis zehn Todesfälle durch Brustkrebs verhindern können.»
Frauen im Alter zwischen 50 und 69 bekommen künftig alle zwei Jahre von der Krebsliga eine Einladung zur Mammografie. Die Kosten von rund 180 Franken pro Röntgenuntersuchung übernehmen die Krankenkassen.
Madeleine Scholl hat von der Brustkrebs-Vorsorgeuntersuchung vor sechs Jahren profitiert. Auf dem Röntgenbild ihrer linken Brust war eine kleine Verkalkung zu sehen – eine Vorstufe von Brustkrebs. Es folgten eine Operation und Bestrahlungen. Jetzt ist alles wieder gut. Dank den regelmässigen Mammografie-Untersuchungen habe Schlimmeres verhindert werden können, sagt ihre Ärztin Véronique Dupont. Sonst wäre der Krebs unbemerkt gewachsen. Dupont: «Sie hatte einen Tumortyp, der lokal bösartig war, und noch keine Streuung versursacht hat. Das ist im Prinzip der ideale Fall.» Das sei genau das, was man mit dem Mammografie-Screening entdecken möchte. Solche Frauen könne man mit einer Operation und Bestrahlung hundertprozentig heilen.
Falscher Verdacht, unnötige Eingriffe
Trotz dieses Erfolgs: Heiner Bucher, Leiter klinische Epidemiologie des Universitätsspitals Basel, stellt den Nutzen von Mammografie-Screenings in Frage. Er untersucht die Effizienz medizinischer Behandlungsmethoden. Der geringe Nutzen der Brustkrebsvorsorge würde den Frauen verschwiegen. Heiner Bucher: «Ich kritisiere, dass die Befürworter vor allem in relativen Zahlen und von 25 Prozent Sterblichkeitsreduktion bei Brustkrebs reden, obwohl das in absoluten Zahlen sehr gering ist und nur zwei von tausend Frauen in zehn Jahren profitieren.»
Die Befürworter der Mammografie nennen dramatische Zahlen: 25 Prozent aller Frauen, die an Brustkrebs sterben, könnten mit einem Screening gerettet werden. Doch was heisst das konkret? Ohne regelmässige Mammografie-Untersuchung sterben von 1000 Frauen innerhalb von zehn Jahren 8 an Brustkrebs. Mit Mammografie-Screening, wenn 1000 Frauen zehn Jahre lang daran teilnehmen, sterben immer noch 6 Frauen an Brustkrebs – trotz regelmässiger Kontrolle. Ihnen hat das Screening nichts gebracht. Höchstens 2 Frauen profitieren. Das sind diese 25 Prozent.
Der Nutzen ist gering. 998 Frauen bringt das regelmässige Röntgen nichts. Im Gegenteil, sie haben nur Nachteile. Heiner Bucher: «Eine Studie in den USA zeigt, dass jede vierte Frau im Zeitraum von zehn Jahren, wenn sie fünfmal an einem solchen Programm mitmacht, das Risiko hat, mit einem falsch positiven Befund konfrontiert zu werden.»
Das heisst: Von 1000 Frauen, die regelmässig eine Mammografie-Untersuchung machen, werden innerhalb von zehn Jahren 250 Frauen mit einem Krebsverdacht konfrontiert, der sich später als falsch herausstellt. Mindestens 50 gesunden Frauen wird unnötig eine Gewebeprobe der Brust entnommen, weil die Mammografie auffällig erscheint. 4 Frauen wird unnötig die Brust operiert, weil der kleine Tumor zu Lebzeiten nie bemerkt worden wäre.
Risiko viel grösser als Heilungschance
Jede 4. Frau erleidet also beim Mammografie-Screening eine enorme Belastung – ohne Nutzen. Das sei sehr traumatisierend für die Frauen. «Das kann dazu führen, dass eine Frau depressiv wird, dass sie Schlafstörungen hat, das kann zu Belastungen in der Partnerschaft führen», sagt Bucher. Eine Frau müsse einfach wissen, dass bei der Teilnahme an einem solchen Programm das Risiko eines falschen Befunds viel grösser sei als die Chance, einen Brustkrebstod verhindern zu können.
Dazu äusserte sich im Studiogespräch Thomas Cerny, Krebsspezialist und Präsident der Krebsliga Schweiz. Wenn bei einer Krankheit der mögliche Schaden ein Maximalschaden sei, dann sei das für betroffene Frauen eine Katastrophe. «Unter diesen Umständen sind die gegen 150 Frauen pro Jahr, die gerettet werden können, wenn wir den Job gut machen, eine grosse Anzahl.» Viele Frauen gingen schon heute zur Mammografie, sagte Cerny, doch die Qualität der Auswertung lasse oft zu wünschen übrig. Mit dem Screening würde die Qualität verbessert.
Selbst ein guter Radiologe entdeckt aber nicht alle Tumore. Eine von 1000 Frauen stirbt innerhalb von zehn Jahren an Brustkrebs, weil er trotz Screening nicht entdeckt wurde. Das Screening-Programm soll die Qualität der Mammografie verbessern. Nur erfahrene Radiologen sind zugelassen. Trotzdem können Fehldiagnosen nicht verhindert werden. Radiologe Peter Schmid: «Das heisst, dass man auf einer Mammografie, auf dem kein Tumor ist, den Verdacht hat, dass es ein Tumor sein könnte und diesen Verdacht ausschliessen muss.» Das sei ein Nachteil, gibt Schmid den Kritikern recht. Es sei die Aufgabe der Radiologen, die Fehlerquote möglichst gering zu halten, deshalb seien die Screening-Programme auch einer engen Kontrolle unterstellt.
Madeleine Scholl hatte grosses Glück. Sie hat von der regelmässigen Mammografie-Untersuchung profitiert. Ein Tumor wurde rechtzeitig entdeckt und entfernt. Doch die allermeisten Frauen haben nur Nachteile. Ihnen wird das Screening-Programm nichts nützen. Im Gegenteil.