Volker Kalhöfer ist mit seiner Krankenkasse zufrieden. Kürzlich rief ihn jedoch eine Makler-Firma an. Er könne in der Grundversicherung viel Geld sparen. Beim Gespräch ging es angeblich darum, einen Termin zu vereinbaren. Doch in Wahrheit wollte die Maklerin herausfinden, ob der 63-Jährige gesund ist. Volker Kalhöfer: «Da hab ich gesagt, ich bin momentan in ärztlicher Behandlung. Dann hat sie das Gespräch abgebrochen.»
Am Telefon aussortiert
Obwohl die Kassen in der Grundversicherung alle aufnehmen müssen, wird Volker Kalhöfer schon am Telefon aussortiert. Die meisten grossen Krankenkassen beauftragen Makler, um neue Kunden anzuwerben. Für jeden Abschluss zahlen sie dem Makler eine Provision. Die Kassen wollen gesunde Versicherte, sogenannt gute Risiken. Dafür belohnen sie die Makler. Wie viel Geld die Krankenkassen für Provisionen bezahlen, zeigen vertrauliche Reglemente mehrerer Krankenkassen, die «Kassensturz» vorliegen.
Beispiel Sanitas: Letztes Jahr erhöhte die Kasse ihre Provisionen. Für den Abschluss einer Grundversicherung für einen 20-Jährigen zahlt Sanitas dem Makler neu 210 Franken statt wie bisher 100 Franken. 2100 Franken Provision zahlt die Kasse für eine vierköpfige Familie mit mehreren Zusatzversicherungen. Geschätzte 200 Millionen Franken im Jahr zahlen Krankenkassen insgesamt an Provisionen. Die Kosten tragen die Prämienzahler. Millionen - Für die sinnlose Jagd auf gesunde Versicherte.
«Kassensturz» legt dem Gesundheitsökonomen Willy Oggier die Provisionsreglemente vor. Für den Experten ist klar: Die Kassen betreiben mit den Provisionen Risikoselektion. Willy Oggier: «Die Makler sind das Instrument der Kassen, um an möglichst gute Risiken heranzukommen. Das sind vor allem gesunde Leute und die Kasse kann diese Makler über Provisionen steuern.»
Kranke Menschen verpönt
Erster Kniff der Kassen ist die Wahl der Franchise. Beispiel Groupe Mutuel: In der Grundversicherung zahlt die Kasse für einen Neukunden mit einer tiefen Franchise gar keine Provision. Null Verdienst für den Makler bei Franchise 300 und 500 Franken. Erst ab 1000 Franken Franchise bezahlt Groupe Mutuel für die Vermittlung eines neuen Kunden. Bis 250 Franken pro Abschluss. Der Trick mit der Franchise: Kranke Menschen wählen eine tiefe Franchise. Der Makler hat keinen finanziellen Anreiz Versicherungen mit tiefen Franchisen zu vermitteln. So verhindert die Kasse, dass der Makler kranke Neukunden anwirbt.
«Kassensturz» recherchiert bei Maklern, die anonym bleiben wollen. Sie bestätigen: Die Kassen bieten grosse Anreize, gute Risiken zu suchen. Eine Versicherung, die nichts einbringt, werde nicht verkauft. Ein Insider sagt: «Die Krankenkassen wollen nur Leute, die nicht wissen wie eine Arztpraxis von innen aussieht.»
Volker Kalhöfer ist gesund. Nur hin und wieder muss er zum Arzt. Dass ihn die Maklerin als schlechtes Risiko abwies, empört ihn. Kalhöfer: «Solange die Versicherungen nur an jungen, gesunden Leuten interessiert sind, werden alle, die krank sind und ärztliche Leistungen beanspruchen, diskriminiert von solchem Verhalten.» Das könne nicht Sinn einer Versicherung sein.
Risikoausgleich mangelhaft
Vorteilhaft ist die Jagd nach den Gesunden einzig für die Kassen. Im Provisionsreglement der Groupe Mutuel steht: «Die Kasse zahlt keine Provision für Personen, die über keinen guten Gesundheitszustand verfügen.» Dieser Ausschluss von schlechten Risiken sollte sich für die Kassen gar nicht lohnen. Der sogenannte Risikoausgleich sorgt für eine Umverteilung zwischen den Kassen.
Ein Beispiel: Ein junger Mann, und eine ältere Frau. Beide wohnen im Kanton Bern. Von beiden erhält die Krankenkasse gleich hohe Prämien: Monatlich 346 Franken. Junge Leute verursachen im Durchschnitt weniger Gesundheitskosten. Deshalb muss die Kasse für den jungen Mann in den Risikoausgleich einzahlen. In diesem Beispiel monatlich 198 Franken. Ältere Versicherte verursachen der Kasse im Durchschnitt höhere Kosten. Für die ältere Frau erhält die Kasse deshalb Geld aus dem Risikoausgleich, pro Monat 130 Franken.
Doch der Risikoausgleich hat einen grossen Mangel. Der Gesundheitszustand der Versicherten werde praktisch nicht berücksichtigt, weil Alter und Geschlecht wenig damit zu tun hätten, sagt Oggier. Es lohnt sich deshalb für die Kassen gesunde Versicherte zu suchen. Was viele nicht wissen: Ältere Versicherte sind besonders lukrativ – wenn sie gesund sind.
Beispiel Helsana: Sie zahlt für einen Versicherten ab 41 Jahren 230 Franken Provision. Das ist deutlich mehr als die 180 Franken für junge Versicherte bis 25 Jahre. Bei Groupe Mutuel sind die Provisionen für Neukunden über 61 Jahren am höchsten. Sie steigen mit zunehmendem Alter von 0 auf 250 Franken pro Abschluss an.
Widerspruch zur Grundidee
Alte, gesunde Menschen sind für die Kassen ein lukratives Geschäft. Beispiel: Angenommen der junge Mann und die ältere Frau verursachen gleich hohe Gesundheitskosten von monatlich 200 Franken. Der Mann ist für die Kasse ein Verlustgeschäft. Die ältere Frau hingegen ist für die Kasse ein gutes Geschäft. Weil die Kasse für sie Geld aus dem Risikoausgleich bekommt.
Die Kassen nutzen das System aus. Der grösste Krankenversicherer Helsana weist die Kritik an Risikoselektion und Provisionen zurück. Das Volk wolle Auswahl und Wettbewerb unter den Krankenkassen. Dieser Wettbewerb führe zu Vertriebsstrategien und Spielregeln. «Wir spielen nach den Spielregeln», sagt Rob Hartmans von Helsana. Wenn man finde, die Spielregeln müssten geändert werden, solle man sie ändern», fügt er hinzu.
Erst 2012 wird der Risikoausgleich verbessert. Das heisst: Die Kassen machen weiterhin Jagd auf Gesunde, die nichts kosten. Auch über die Zusatzversicherungen. Für den Abschluss einer Zusatzversicherung zahlen die Kassen weitere Provisionen. Bei der Zusatzversicherung darf die Kasse Gesundheitsfragen stellen. Sie erfährt so, ob eine Person krank ist. Gegenüber «Kassensturz» bestätigten Makler: Die Kassen sortieren einfach aus über die Gesundheitsfragen. Wenn ein Problem auftritt, lehnen sie den Antrag ab. Besonders ältere Leute wechseln dann auch die Grundversicherung nicht mehr.
Für Simonetta Sommaruga, Präsidentin der Stiftung für Konsumentenschutz, widerspricht die Risikoselektion über Provisionen der Grundidee der Krankenversicherung. Das sei völlig absurd: «Denn die Krankenkassen sind für die Kranken da und nicht für die gesunden Leute.» Komme dazu, dass man mit diesen Provisionen aktiv Risikoselektion betreibe – «und das mit Geldern, die die Versicherten zwangsweise abliefern müssen. Das ist für mich eine Zweckentfremdung von Versicherungsgeldern», sagt Sommaruga.