Im Rahmen der IV-Revision soll die Invalidenversicherung bis im Jahr 2018 17'000 vor allem psychisch angeschlagene Personen wieder ins Arbeitsleben zurückführen. Das entspricht 12'000 Renten.
Besonders betroffen sind IV-Rentner mit nicht vollends erklärbaren Beschwerde-Bildern wie Schleudertrauma, oder rätselhaften Schmerzerkrankungen wie Fibromyalgie, ein Weichteilrheuma, das in allen möglichen Regionen des Körpers auftreten kann. Bis Ende nächstes Jahr sollen 4500 dieser Renten-Bezüger die Unterstützung gestrichen werden.
9000 Franken pro Gutachten
Das heisst: Ein bisheriger IV-Bezüger, der unter solchen, nicht objektivierbaren, Schmerzen leidet, muss jetzt beweisen, dass er kein Simulant ist. Wer keine Röntgenbilder oder wissenschaftliche Beweise vorlegen kann, die sein Leiden hieb- und stichfest dokumentieren, hat schlechte Karten.
Denn diese Personen geraten in ein sozialrechtlich fragwürdiges System: Komplizierte Fälle schickt die IV zu einer medizinischen Abklärungsstelle. Diese kassieren pro Gutachten 9000 Franken und sind wirtschaftlich von der IV abhängig.
Das belegen Zahlen: Die meisten Abklärungsstellen erzielen mehr als 80 Prozent ihres Umsatzes dank der Invalidenversicherung. Dies ist besonders bei privaten Gutachterinstituten heikel.
Politiker: «Krankheit durch Willen heilbar»
Pikant: Ausgerechnet mit diesen Gutachten steht und fällt die Rente. Denn Versicherungen und Gerichte folgen den Einschätzungen der Gutachter fast ausnahmslos.
Möglich ist diese Politik durch eine Reihe von Parlamentsentscheiden und Urteilen des Schweizerischen Bundesgerichts und des Verwaltungsgerichts: Bei Politikern und Juristen hatte sich die Meinung durchgesetzt, dass die Betroffenen ihre Krankheit wegstecken oder mit Willenskraft überwinden und wieder arbeiten können.
Immer noch gleich krank
Die meisten Mediziner können diese Haltung nicht nachvollziehen. «Das Sozialversicherungsrecht klebt immer noch am medizinisch veralteten (...) Weltbild und klammert soziale Umstände als mögliche krankmachende Faktoren weitgehend aus», schrieb Jörg Jeger, Leiter der Medizinischen Abklärungsstelle Zentralschweiz, schon vor Jahren. Dabei ist das enge Zusammenspiel zwischen Psyche und Krankheit seit Jahrzehnten dokumentiert.
Viele IV-Bezüger, die jetzt im Rahmen der IV-Revision neu begutachtet werden, seien noch genau gleich krank, sagt Patientenrechtsanwalt Werner Kupferschmid. Daran habe sich nichts geändert. «Was sich geändert hat, ist der Zeitgeist, die juristische Bewertung. Deshalb werden heute für solche Beschwerdebilder von den Versicherungen keine Leistungen mehr bezahlt.»
Rente von 4000.- auf 500.- gekürzt
Acht Jahre lang hat Andreas Schnorf aus Hettlingen ZH eine Rente erhalten. Nach einem unverschuldeten Unfall erhielt er die Unterstützung von der IV, der Pensionskasse und der Unfallversicherung Helsana.
Im Rahmen der IV-Revision wurde auch seine Rente neu abgeklärt. Die IV schickte ihn zum ärztlichen Begutachtungsinstitut ABI in Basel. Resultat der medizinischen Untersuchung: Schnorf ist nicht mehr 100 Prozent arbeitsunfähig sondern plötzlich 90 Prozent arbeitsfähig.
Postwendend nach der Abklärung kürzt die Helsana als erste Schnorfs Rente von 4000 Franken pro Monat auf 500. Die Kürzungen der IV und der Pensionskasse dürften folgen.
Dass mit der IV-Revision Leuten mit nicht erklärbaren Schmerzbildern wie Andreas Schnorf besonders hart angepackt werden, ist heikel, sagt Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich.
«Es ist eine Gruppe von Leuten, die ganz legal eine Rente erhalten hat bei einem Krankheitsbild, das früher anerkannt war. Und diese Gruppe, die heute keine Rente erhalten würde, wird nun revidiert und an dieser Gruppe werden Kosten gespart und das ist ein Gerechtigkeitsproblem.»
IV-Bezüger landen bei der Sozialhilfe
Einen negativen Rentenentscheid vor Gericht zu korrigieren, ist für Leute, mit nicht genau feststellbaren Schmerzbildern, kaum möglich. Auch, wenn der Patient genau gleich krank ist wie zum Zeitpunkt, als ihm die Rente zugesprochen worden ist.
Richtern fehlt das medizinische Wissen, eine Arbeitsfähigkeit des Patienten zu beurteilen. Und: Wird ein Unfall nur als mittelschwer eingestuft, fällt er grundsätzlich als Ursache für eine Invalidität weg. Dabei spielt es keine Rolle, wie es dem Opfer tatsächlich geht.
Die Folgen sind absehbar: Wer nicht arbeiten kann und keine Rente mehr erhält, landet über kurz oder lang bei der Sozialhilfe. Dann zahlt die Allgemeinheit die Kosten, die von den Versicherungen nicht mehr übernommen werden.
Manchmal purer Zufall
Ob alte Renten gestrichen oder neue schon gar nicht bewilligt werden, hängt nicht nur vom effektiven Gesundheitszustand ab, sondern oft vom Zufall, sagt Georges Pestalozzi von Integration Handicap.
Kritik an der IV-Revision
Das sagt das Bundesamt für Sozialversicherungen: «Die gesundheitliche Situation von IV-Bezüger/innen kann sich verbessern. Diese Personen sind verpflichtet, alles ihnen Zumutbare zu unternehmen, um ihre Erwerbsfähigkeit entsprechend zu steigern. Dazu gehört auch, dass sie sich so weit als zumutbar selbst eingliedern (z.B. eine ihnen entsprechende Stelle suchen oder ihr Pensum erhöhen). Die IV ihrerseits steht in der Pflicht, sie in der Eingliederung zu unterstützen, soweit sie nicht selbst dafür sorgen können. Nicht nur die IV-Renten von Menschen mit nicht-objektivierbaren Beschwerden sondern alle laufenden IV-Renten werden alle 3 bis 5 Jahre einer Revision unterzogen. Das Verfahren und die Anspruchsvoraussetzungen für Massnahmen der IV sind für alle gleich und im Gesetz geregelt.»