Fünftklässler und Fünftklässlerinnen stehen in einem Kreis und schliessen ihre Augen. «Das Insekt hat sechs Beine, aussergewöhnlich grosse Augen und einen dünnen, dreiteiligen Körper», sagt Julia Sonderegger, Rangerin des Natur- und Tierparks Goldau. «Was für ein Tier könnte es sein?» Die Schüler und Schülerinnen öffnen die Augen wieder und sehen, dass Sonderegger eine Libelle aus Plastik in den Hand hält. «Wir wollen die Vielfalt der Insekten zeigen», sagt Sonderegger. Die Rangerin bringt die Kids zum Staunen: «Etwa drei Viertel aller bis heute erfassten Tierarten sind Insekten.»
An diesem Freitag besucht eine Klasse aus Schwyz den Park unterhalb des Berges Wildspitz. Es ist eines der grossen Projekte des Natur- und Tierparks: Die Artenvielfalt für Kinder erlebbar machen und sie dafür zu begeistern. Denn der Park hat sich in den letzten Jahren revolutioniert: Es werden zwar noch immer Bären, Wölfe und Ziegen gehalten, jedoch engagiert sich der Park darüber hinaus für die Biodiversität. So wurde zum Beispiel ein Insektenpfad gebaut, auf dem nun die fünfte Klasse aus Schwyz unterwegs ist.
Käfer putzen die Landschaft
Unterdessen ist die Führung beim sogenannten Totholzgarten angelangt. Die Kinder betrachten die morschen Stämme auf der Suche nach Käfern. «Käfer putzen unsere Landschaft», erklärt Sonderegger. Die Kinder hören wohl zum ersten Mal, dass Insekten tote Pflanzen und Tiere abtragen. Dadurch gelängen die Nährstoffe wieder in den Boden. «Käfer sind also sehr wichtig, damit der Boden fruchtbar ist und später wieder Pflanzen wachsen können», so Sonderegger. Dann holt sie Kärtchen hervor, auf denen Käfer in allen Grössen und Formen abgebildet sind. Damit wird nun Memory gespielt. «Wääh, dieser Käfer sieht grusig aus», sagt ein Schüler. «Kinder haben leider häufig eine Abneigung gegenüber den Insekten», sagt die Rangerin. «Auf der Führung möchte ich ihre Begeisterung für die Sechsbeiner wecken.» Nur so würden sich die Kinder dafür interessieren, warum die Insekten so wichtig für uns und alle Erdbewohner sind.
Später spricht Julia Sonderegger über den starken Rückgang der Insekten. 40 Prozent der bisher untersuchten Insektenarten der Schweiz gehören zu den gefährdeten Arten. Ein Grund dafür ist die Zerstörung von naturnahen Lebensräumen. Unter anderem durch Überbauungen, intensive Landwirtschaft oder die Entwässerung der Feuchtgebiete. Das lernen die Schüler und Schülerinnen in einem Rollen-Spiel. Sie sind sozusagen selbst Wildbienen und sammeln Pollen, beziehungsweise Pingpong-Bälle, die sie dann in einen Korb legen. Dann wird der Korb mit den Bällen einige Meter verschoben, weil quasi eine Siedlung gebaut wird. «So merken die Kinder, welche zusätzlichen Anstrengungen nun die Wildbienen auf sich nehmen müssen, um an die Pollen und den Nektar für die Aufzucht ihrer Brut zu gelangen», sagt Sonderegger. Das widerspiegle die Realität: Laufend verschwinden Brachen, Böden werden versiegelt und Gewässer verunreinigt.
Zum Schluss fragt Sonderegger, was die Fünftklässler und -Klässlerinnen für die Insekten tun können. «Mit der Taschenlampe auf der Strasse unterwegs sein», sagt ein Mädchen. Dann bräuchte es keine Strassenlaternen mehr, deren Licht die Insekten störe. «Keine Pestizide spritzen», sagt ein Junge. «Im Garten einheimische Pflanzen säen», sagt ein anderer. Sonderegger scheint zufrieden und verabschiedet sich von der Schulklasse. Auf dem Weg zum Mittagessen plaudern die Schüler und Schülerinnen über das Gelernte. «Ich will in meinem Garten ein Wildbienenhotel bauen», sagt eine Schülerin. Eine, die neben ihr steht, meint: «Und ich möchte nächsten Frühling in unserem Garten Blumen säen.» Die Klasse verbringt den ganzen Nachmittag im Park. Nach den Herbstferien ist die Artenvielfalt dann Thema im Unterricht.
Daniel Buresch hat die Veränderungen im Tierpark Goldau eng begleitet. «Wir setzen uns nicht nur dafür ein, den Besuchenden Wissen über die Biodiversität zu vermitteln, sondern erhalten auch konkret die Artenvielfalt», so der Leiter Naturförderung und Bildung des Tierparks. Der Park umfasst 42 Hektare, davon ist ein Teil eingezäunt und für Besucher zugänglich. Der andere Teil ist naturnahe Fläche oder Naturschutzgebiet. Da hegen und pflegen Angestellte Waldgebiete und Magerwiesen, auf denen seltene Arten wachsen.
Mosaik aus Lebensräumen
«Früher zeigten Zoos vor allem Tiere, heute haben Tierparks den Fokus auf ganz anderen Aufgaben», sagt Buresch. Zuerst kam die Arterhaltung als Aufgabe hinzu: In Goldau wird der zeitweise ausgerottete Bartgeier aufgezogen und wieder in der Natur angesiedelt. Zudem sieht sich der Park heute in der Verantwortung, verschiedene Lebensräume zu pflegen und so die Artenvielfalt zu fördern. So hat sich ein regelrechtes Mosaik aus Lebensräumen auf den 42 Hektaren gebildet: Amphibienteiche, Waldränder, Magerwiesen.
Buresch stapft einen Hang hoch. «Hier ist eine besondere Perle der Biodiversität», sagt der 46-Jährige und zeigt um sich. Ein kleiner Bach fliesst durch eine wildwuchernde Wiese. Vereinzelt stehen Föhren herum. In einem Tümpel bewegt sich etwas. «Hier haben sich Gelbbauchunken eingelebt», freut sich Buresch.
Einige Meter neben dem Tümpel ragen dünne Äste senkrecht aus der Landschaft. Daran befestigt sind wiederum Bündel von Stängeln. Einige davon sind getrocknet, andere sind frischer. Diese Stängel hat Florence Gilliéron hier montiert. Die ETH-Masterstudentin in Biologie untersucht gerade die Stängel: «Wir erforschen hier, wie Wildbienen und Wespen in Stängel nisten», erklärt die 26-Jährige. Gewisse Arten suchten unter anderem Brombeer-, Himbeer- oder Holunderstängel auf, um dort ihre Eier abzulegen. «Man weiss noch fast nichts über diese Arten», so Gilliéron. «Um diese Wildbienen schützen zu können, müssen wir aber wissen, wo sie am liebsten nisten.» Deshalb hat die Biologiestudentin in Feucht- und Waldgebieten sowie auf Kiesgruben und Trockenwiesen solche Stängel platziert. Aber auch in drei Städten.
Höhere Biodiversität in der Stadt
Es interessiert sie besonders, welche Unterschiede Städte und ländliche Regionen aufweisen. «In der Stadt sind auffällig viele Stängel besiedelt», so Gilliéron. Es sei zwar bekannt, dass die Stadt eine grössere Biodiversität aufweise, aber dass auf Brachen dermassen viele Wildbienen leben, hätte sie nicht gedacht. «Die Tiere bewohnen die Stadt. Man muss ihnen nur Raum geben», sagt die junge Forscherin. Die Stängel sind nun zwei Monate draussen. Bald sammelt Gilliéron diese ein und überwintert sie in ihrem Garten. «Im Frühling sehe ich endlich, welche Arten die Stängel besiedeln.» Das sei ein bisschen wie Geschenke auspacken an Weihnachten.
Dieses und weitere Forschungs-Projekte rund um die Biodiversität werden von einer Stiftung finanziert, welche ihre Namen nicht publik macht. Rund 850'000 Franken hat die anonyme Stiftung dem Park für die nächsten fünf Jahre zur Verfügung gestellt. Das Geld fliesst auch in die Bildungsprojekte. Doch die laufenden Projekte unter dem Titel «Mehr als Bienen» sind erst der Anfang. Daniel Buresch und seine Mitarbeiter haben noch vieles vor, um den Tierpark zu einer Oase der Biodiversität zu verwandeln.