Das Versprechen der Methode ANR – accelerated neuroregulation – klingt fast zu schön, um wahr zu sein: Nach einer medikamentösen Behandlung unter Vollnarkose sollen Abhängige nicht nur körperlich drogenfrei, sondern auch frei vom Verlangen nach dem Suchtmittel sein. Die ANR, übersetzt so viel wie beschleunigte Regulierung von Nervenzellen, hat der israelische Intensivmediziner André Waismann entwickelt. Er therapiert im Barzilai University Medical Center im nahe bei Tel Aviv gelegenen Ashkelon seit 15 Jahren Opiatabhängige nach dieser Methode – egal, ob es sich beim Suchtmittel um illegale Drogen, Medikamente oder Substitutionsmedikamente wie Methadon handelt.
Hauptbestandteil der Therapie ist der Opiatantagonist Naltrexon, ein Medikament, das in der Schweiz seit 2003 zugelassen ist und in der Heroin-Entwöhnung nach dem Entzug unterstützend eingesetzt werden kann. Bei der ANR-Methode erhält der Abhängige in einer sechsstündigen Vollnarkose eine gute Dosis Naltrexon, das die Opiatrezeptoren blockiert. Der Betroffene soll damit nach dem Aufwachen suchtfrei sein. Damit das Verlangen nach Drogen nicht wieder erwacht, müssen Betroffene während der folgenden zwölf Monate aber noch täglich weiter Naltrexon einnehmen.
In der Schweiz bietet einzig das Spital Interlaken den ANR-Entzug an, jeweils wochenweise. 17‘000 Franken kostet ein solcher Entzug, die der Betroffene selber zahlen muss. Die Krankenkassen übernehmen nur die Kosten für das Medikament Naltrexon. Bei Bedarf hilft ein gemeinnütziger Verein Betroffenen, das notwendige Geld aufzutreiben.
Ganz unumstritten ist die Methode in Fachkreisen nicht, auch wenn André Waismann von einer hohen Erfolgsquote spricht. Nach wie vor fehlen noch Studien, um die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit wissenschaftlich zu belegen.
Endlich loskommen von der Sucht – Bericht eines Betroffenen
Michel B., 37, hat eine lange Drogenlaufbahn mit vielen gescheiterten Entzügen hinter sich. Jetzt hat er den ANR-Entzug im Spital Interlaken gemacht und hofft, dadurch endlich drogenfrei zu werden. Seine Suchtlaufbahn begann bereits im Kindesalter.
SRF: Michel B., Sie haben schon früh mit Drogen angefangen…
Michel B. : … mit Alkohol – da war ich acht. Mit elf fing ich an zu kiffen, mit etwa 13 oder 14 habe ich zum ersten Mal Heroin genommen. Meine Mutter wurde schwer herzkrank und ich habe nur noch getrunken, gekifft und Heroin konsumiert und hing entsprechend in der Schule durch. Deshalb musste ich ins Heim. Die haben schnell reagiert und mich in eine Entzugsklinik gebracht für einen dreiwöchigen Entzug. Danach kam ich zurück ins Heim und fing dort eine Lehre an als Flexodrucker an. Aber ich musste sie bald wieder abbrechen, weil ich wieder Heroin genommen habe. Vom Heim kam ich zum Vater und begann mit 16 eine Lehre als Plattenleger, aber auch die musste ich nach einem Jahr wieder wegen der Drogen aufgeben. Ich habe dann temporär gearbeitet, habe Verschiedenes gemacht, habe auch mit Drogen gedealt, war auf der Gasse.
Dann folgten verschiedene Entzüge?
Mit 18 habe ich einen Entzug und eine stationäre Therapie gemacht. Ich war danach noch mehrere Male im Entzug, stationär, zu Hause, zusammen mit der Freundin. Die ersten zwei drei Tage ging es immer, aber dann kam das Reissen immer wieder.
Das Verlangen nach der Droge …
Ja. Ich wollte immer vom Heroin loskommen. Ich bin der Natur sehr verbunden, bin eigentlich ein Bauernsohn, aber das Verlangen war immer wieder da. Dann kam ich 2002 ins Gefängnis nach Regensdorf, zweieinhalb Jahre in den Vollzug und ein Jahr in den freien Vollzug wegen versuchtem Raub und Dealen. In der Untersuchungshaft habe ich regelmässig Methadon bekommen und Benzodiazepine.
Wieso denn Benzodiazepine?
Weil ich nicht gut schlafen konnte. Schon mit 16 habe ich mit Benzodiazepinen angefangen und war voll abhängig davon. Gegen Ende der U-Haft sagte ich zu mir: Jetzt ist Schluss mit den Benzos und habe einfach aufgehört damit. Ich konnte zwar etwa drei Monate nicht mehr schlafen, aber es hat sich gelohnt: Bis heute habe ich es ohne Benzos durchgehalten.
Wieso ging das nicht auch mit Heroin?
Ich hab’s ja immer wieder versucht, eigentlich wollte ich immer schon davon loskommen. Aber es war immer dieses Reissen da, sogar als ich Methadon genommen habe. Dann bin ich mit meiner damaligen Freundin in ein Bauernhaus gezogen. Sie war schwanger, als wir uns kennenlernten. Sie hat das Kind bekommen und später noch eines, aber ich hatte immer wieder Abstürze. Schliesslich bin ich abgehauen, es war mir alles zu viel. Ich habe sie einfach sitzen lassen, auch die Kinder. Ich war total im Sumpf und ich mich geschämt.
Wie sind Sie nach Interlaken gekommen?
Die letzten drei Jahre war ich in Olten, weil ich dort einen guten Freund habe, der mir viel Halt gegeben hat. Hier ging ich ins Heroinprogramm, ich habe die Dosis immer weiter heruntergefahren. Ich war auch immer wieder im Entzug, zum letzten Mal im November 2015. Bis ich in diesem Frühling Ursi traf. Ich war richtig baff, wie sie sich gemacht hat.
Ursi hat nach 25 Jahren Heroinsucht vor zwei Jahren den Entzug in Interlaken gemacht und ist seitdem drogenfrei.
Ja, und sie hat gesagt, ich solle mich dort melden, sie hätten noch Plätze frei.
Aber die Behandlung ist teuer.
Ich hatte Glück: Mir hat eine Spenderin den Entzug bezahlt. Ihr Sohn war über 30 Jahre auf Heroin. Er hat den ANR-Entzug gemacht und war zwei Jahre sauber, dann ist er plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Seine Mutter war so froh über diese zwei Jahre Zeit mit ihm, die schön war, dass sie mir und noch jemandem den Entzug aus Dankbarkeit bezahlt hat.
Wie war die erste Zeit nach dem Entzug?
Nach der Vollnarkose bleibt man auf Station und geht dann in Begleitung in ein Hotel, das gehört zum Entzug. Ich war noch einen Tag auf Station, dann bin ich mit Ursi für zwei Tage ins Hotel, dort kam der Arzt ein paar Mal vorbei, zusammen mit Waismann, um zu schauen, wie’s mir geht. Ursi war für mich da, sie hat auf mich aufgepasst. Nach zwei Tagen sind wir dann zu Ursi für zwei Wochen nach Adelboden.
Und wie ging es Ihnen danach?
Die ersten zwei Wochen waren hart. Ich war lichtempfindlich, ich konnte kaum laufen, nach 10, 20 Metern war ich kaputt. Ich habe alles doppelt gesehen, aber das hat sich nach zwei, drei Tagen wieder eingestellt. Und ich konnte praktisch nichts essen, ich musste brechen, hatte Durchfall, Magenweh. Insgesamt habe ich acht Kilo abgenommen. Aber das hat man auch sonst während eines Entzugs, es ist ein einziges Kotzen und Scheissen. Aber trotzdem: Es war niemals so heftig wie in den vorherigen Entzügen.
Und wie verhält es sich mit dem Verlangen?
Das Reissen habe ich nicht mehr. Kein Verlangen mehr. Ich bekomme Hühnerhaut, wenn ich nur daran denke.
Wie geht es Ihnen heute, fünf Wochen nach dem Entzug?
Genau zwei Wochen nach dem Entzug kam ich nach Hause, da war der Freund, der sagte: Überraschung! Er hatte ein Schlauchboot aufgetrieben und ist mit mir an den Neuenburgersee gefahren. Am zweiten Tag ging ich mit ihm einkaufen, und ein paar Tage später Velofahren, da habe ich mich richtig ausgepowert, ging an meine Grenzen. Und seit dem Tag geht es mir wieder sehr gut. Ich mache Sport, gehe wandern.
Haben Sie Angst, dass Sie es diesmal vielleicht auch nicht durchstehen könnten?
Klar habe ich Angst, aber ich denke, ich muss dran bleiben, das lohnt sich für mich. Ich kann wieder ich sein, ich bin ein total neuer Mensch. Das empfinde nicht nur ich so, das fällt auch jedem in meinem Umfeld auf.