Zu Verletzungen am Finger-Endglied kann es bei Haus-, Garten- und handwerklichen Arbeiten schnell einmal kommen. Auf Notfallstationen ist man mit solchen Verletzungen vertraut: Ganze Stücke können abgeschnitten oder zerquetscht sein.
Fehlt zu viel oder ist sogar Knochen sichtbar, bedeutet dies: operieren und die blutige Wunde mit einem sauberen Hautstumpf decken. Dazu ist zuvor oft eine weitere Kürzung des Fingers notwendig, damit das vorhandene Gewebe ausreicht, um den Knochen zu decken.
So steht es zumindest in den Lehrbüchern. Seit einigen Jahren steigen aber schweizweit Handchirurgen auf eine erstaunliche Methode um: den Fingerstumpf einfach in Folie packen und die Natur machen lassen. Einer der ersten Handchirurgen in der Schweiz, der diese Methode anwandte, ist Dominik Hoigné. Über 200 Finger hat er schon so behandelt und dabei genau dokumentiert.
SRF: Herr Hoigné, wie funktioniert diese Methode genau?
Dr. Dominik Hoigné: Das Prinzip dieses «Semiokklusiv-Verbands» ist eigentlich simpel: Die Folie um die Wunde sorgt für ein feuchtes Milieu. Darin sammeln sich Blut, Wundabsonderungen, abgestorbene Zellen und vor allem sogenannte Wachstumsfaktoren an, eine Art Hormone.
Interessanterweise scheint die Zusammensetzung dieser Wachstumshormone unter dem Folienverband derjenigen beim Embryo zu ähneln – und beim Embryo ist ein narbenfreies Nachwachsen von Gewebe möglich. Es ist denkbar, dass da ein Zusammenhang besteht, denn narbenfreie Heilung gibt es beim Erwachsenen sonst nicht.
Was bedeutet «narbenfreie Heilung»?
Lässt man eine Fingerwunde offen oder unter einem gewöhnlichen (trockenen) Verband heilen, bildet sich keine normale Haut, sondern eben eine Narbe. Diese enthält nicht mehr die normalen Hautbestandteile wie Schweissdrüsen, Tastkörperchen und Nagelbett, und sie hat die Tendenz zu schrumpfen.
Im feuchten Milieu unter der Folie bildet sich das Gewebe wieder fast genau wie vorher. Ausser dem Knochen, der wächst nicht nach. Interessanterweise wächst auch bei der Eidechse kein echter Knochen mehr nach, sondern ein Ersatzgewebe.
Wie lange dauert die Behandlung?
Bei grossen Defekten hat sich nach rund sechs Wochen meistens genügend neues Gewebe gebildet, dass der Folienverband abgenommen werden kann. Bis zum endgültigen Resultat dauert es aber in der Regel ein gutes halbes Jahr.
Wir haben eine Serie von Patienten sechs bis zwölf Monate nach der Verletzung mittels Ultraschall untersucht: Die Gewebedicke betrug rund 90 Prozent der ursprünglichen Dicke, das ist sehr zufriedenstellend. Auch das Berührungsempfinden war nur wenig schlechter als auf der gesunden Seite. Auch eine Überempfindlichkeit der Haut, wie sie nach einer Operation in solchen Fällen mit einiger Regelmässigkeit auftritt, beobachteten wir kaum je.
Verglichen mit den Resultaten von operativen Behandlungen, wie sie in den Fachzeitschriften publiziert wurden, sind die Resultate mit der Folie mindestens gleich gut, wenn nicht besser.
Wie häufig muss man den Folienverband wechseln?
Ungefähr einmal in der Woche, häufiger ist auch möglich, wenn der Patient das wünscht. Wichtig ist, dass man das Material, das sich unter der Folie gebildet hat, dabei nicht mit entfernt, sondern belässt – es spielt für die Regeneration des Gewebes eine wichtige Rolle.
Man darf sich dabei nicht durch das Erscheinungsbild beeindrucken lassen: Es sieht eitrig-faulig aus und kann unter Umständen ziemlich stinken. Das ist aber völlig normal und wir sind daran, Techniken gegen den Geruch auszuprobieren. Aktivkohle-Wundauflagen zum Beispiel scheinen recht gut zu wirken.
Besteht dabei keine Gefahr der Entzündung?
Bei allen mir bekannten Fällen – es sind weit über 200 – ist es bei keinem einzigen zu einer Infektion gekommen. Bakterien hat es zwar unter dem Folienverband in rauen Mengen, allerdings scheinen sie in diesen speziellen Umständen keinen Schaden zu verursachen. Man spricht hier von einer Kolonisation, das heisst: Die Bakterien besiedeln zwar die Wunde, verursachen aber keinen Schaden.
Antibiotika braucht es jedenfalls keine. Interessanterweise kommt es auch bei freiliegendem Knochen nicht zu dessen Infektion. Das war selbst für uns Fachleute erstaunlich.
Könnte man solche Folienverbände auch andernorts ausprobieren?
Bislang ist da recht wenig geforscht worden. Klar ist, dass so einfach keine ganzen Finger nachwachsen werden. Das narbenfreie Nachwachsen von unterschiedlichem Gewebe haben wir nur am Fingerendglied systematisch aufgezeigt. Alles vom Fingerendgelenk an einwärts sollte nach wie vor operiert werden.
Andere Anwendungsgebiete könnte ich mir aber durchaus vorstellen, zum Beispiel zur Narbenkorrektur. Mich würde sehr interessieren, ob man störende Narben auch anderswo als an der Fingerspitze ausschneiden und mit der Folie ästhetisch schön ausheilen lassen könnte. Solche Studien werden aber ethisch kaum durchgehen – vielleicht sollte ich einmal einen Selbstversuch machen.