Miss Jemimas Tagebuch: Mittwoch, 1. Juli 1863
Um vier Uhr morgens wurden wir von Kuhglockengeläut geweckt. Beim Aufstehen freuten wir uns, dass der Regen aufgehört hatte. Die lokalen Wetterfrösche versprachen uns einen schönen Tag für unsere Expedition nach Martigny über den Tête-Noire-Pass. Dies freute uns noch mehr.
Unsere Gruppe bestand aus neun Personen; wir mieteten vier Maultiere und planten, uns beim Wandern und Reiten abzuwechseln. Um fünf Uhr morgens setzte sich unser Zug in Marsch, angeführt von unserem gestrigen Bergführer Pierre Balmat.
Als wir durch das Tal wanderten, betrübte uns der Gedanke, dass wir dem ehrwürdigen Mont Blanc den Rücken kehren mussten. Die Wolken rund um seinen Gipfel zerteilten sich rasch und liessen uns sehnsüchtig an den Weg nach La Flégère denken, auf den wir leider leider am Vortag verzichten mussten.
Wenn man bedenkt, wie schwierig dieses berühmte Tal zu erreichen ist, liegt es auf der Hand, dass man mehr Zeit aufwenden sollte, um seine Wunder zu entdecken. Ein wirklich und nachhaltig befriedigender Aufenthalt in dieser Wunderwelt benötigt genügend Zeit. Nur so lassen sich die einzelnen Eindrücke vertiefen und zu lebenslangen wertvollen Erinnerungen verdichten.
Immer wieder hielten wir an und drehten uns um, um die verschneite Spitze des Mont Blanc zu bewundern.
Immer wieder hielten wir an und drehten uns um, um die verschneite Spitze des Mont Blanc zu bewundern. Sie glänzte in der Sonne wie reinstes, mit Raureif überzogenes Silber und ragte majestätisch in einen zartblauen Himmel wie der «grosse weisse Thron» beim Jüngsten Gericht.
Der heftige Regen am Vortag und die heisse Morgensonne hatten die Luft gereinigt, sodass alle Farben am Wegrand, jedes Chaletdach und jeder gefällte Baumstamm nur so leuchteten. Selbst die Pfützen auf dem Weg sorgten für Farbeffekte, da sich der blaue Himmel in ihnen spiegelte.
Nach zwei Stunden erreichten wir das Dorf Argentière. Der gleichnamige Gletscher schien bis ins Dorf hineinzufliessen. Bald danach betraten wir Vallorcine, ein Dorf, das immer wieder von Lawinen zerstört wird. Die Chalets standen auf Pfeilern, damit der schmelzende Schnee ins Tal abfliessen konnte.
Wie zu erwarten starren die Wohnorte im Tal vor Unwissenheit, Armut und Schmutz.
Nach jeweils sieben oder acht Kilometer kamen wir zu einem Kruzifix oder einem kümmerlichen Heiligenbild, geschmückt mit kümmerlichen Kunstblumen und Inschriften, die den Betern zum Schutzpatron der Gegend zwanzig oder vierzig Tage Befreiung von Sündenstrafen versprachen. Wie zu erwarten starren die Wohnorte im Tal vor Unwissenheit, Armut und Schmutz.
Als wir zum Barberine-Gasthaus kamen, wurden die Maultierreiter von den zuverlässigen Grautieren nicht weitergetragen, sondern direkt in den Stall zu anderem Vieh. Da uns die Tiere so höflich daran erinnert hatten, dass es Zeit zum Mittagessen war, beschlossen wir, hier zu rasten.
Das Gästebuch enthielt die neugierigsten Fragen, die wir je gesehen hatten – im Namen der Regierung wollte man von uns nicht nur wissen, wo wir derzeit wohnten, sondern auch alle Details zu unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Während die Kalbskoteletts gebraten wurden, lasen wir die Einträge im Gästebuch. Es enthielt die neugierigsten Fragen, die wir je gesehen hatten – im Namen der Regierung wollte man von uns nicht nur wissen, wo wir derzeit wohnten, sondern auch alle Details zu unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir verfassten schöne Antworten, die der Regierung sicher sehr nützlich gewesen sein dürften!
In Sichtweite des Gasthofs lag ein beeindruckender Wasserfall – der «Barberine» mit wesentlich grösseren Dimensionen als alle ähnlichen Naturschauspiele in England. Leider hatten wir nicht genug Zeit für eine genaue Besichtigung, sondern mussten ihn verlassen und unseren Weg durch die enge Schlucht fortsetzen, die wir durch die dicht zusammenstehenden Berge erkennen konnten.
Die Wegränder waren üppig mit verschiedensten Pflanzen bewachsen. Nelkenpolster, zarte Farnkräuter, Glockenblumen und Walderdbeeren und auch Moose unter plätschernden Wassergerinnseln schmückten diese übergrünte Böschung. Viele Sägewerke – übrigens die einzigen Maschinenanlagen – wurden durch den aktiven Fluss aus dem Wasserfall angetrieben.
Je weiter wir vorwärtskamen, desto heftiger ergoss sich der Fluss über Felshänge und riesige Felsblöcke, die von den Bergeshöhen heruntergestürzt waren. Der Wegrand schlängelt sich an einem Tobel entlang und verläuft unter einem Felsüberhang, der eine dunkle Schlucht von mehrere hundert Meter Tiefe überspannt.
Auf der anderen Seite ragen riesige Felsmassen senkrecht in den Himmel. Ihre Gipfel sind sattgrün bewachsen und hier und da steht vereinzelt ein Chalet, der Sommerwohnsitz eines einsamen Kuhhirten.
Was könnte erhabener sein als dieses Schauspiel – dachten wir. Aber als wir eine weitere Bergschulter umrunden, erhebt sich vor uns ein noch beeindruckenderer Berg. Er trägt eine Tannenkrone ... tatsächlich, es ist der Tête Noire.
Die nächste halbe Stunde durchquerten wir diesen dunklen Bergwald. Ganz selten sahen wir ein Stückchen Himmel. Jetzt aber fehlen uns die englischen und französischen Worte, die Ausrufe und die Entzückenslaute. So bewegen wir uns ganz still durch dieses Steinlabyrinth und es kommt uns vor, als ob die Erde bis ins Innerste erschauert wäre und uns in ihre Abgründe herabgezogen hätte.
Es ist ein wahres Wunder, dass die Berghütten nicht von den Sturzbächen mitgerissen werden.
Wir tauchten aus dem Wald wieder auf und betraten das grosse Trient-Tal mit seinen Wiesen. Die Verwüstungen an den Talseiten wurden von Lawinen verursacht. Es ist ein wahres Wunder, dass die Berghütten nicht von den Sturzbächen mitgerissen werden, die sicher auf beiden Seiten mit voller Kraft ins Tal stürzen, oder dass die Chalets die angeschwollenen Gletscherbäche auf der Talsohle aushalten.
Die Mittagssonne brannte auf unsere Schultern, als wir uns diesen allersteilsten Weg hinaufquälten. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass irgendetwas eiskalt sein könnte, bis wir noch weiter nach oben schauten und dort tatsächlich einen Schneerest auf dem Col de Balme erblickten, 2204 Meter über Meereshöhe. Auch der kalte Winterwind, der von den Schneebergen Savoyens wehte, fühlte sich nach unserem sonnigen Weg auf den Forclaz sonderbar an.
Endlich haben wir den Bergkamm erreicht. Oh! Schatten, eine Pause, Walderdbeeren und Milch in dem einladenden Stall zuoberst auf der Forclaz! Wie dankbar sind wir! Solche appetitlich angerichteten Erfrischungen stehen vor jedem kleinen Chalet an unserem Weg. Sie erhöhen die Kosten unserer Schweizreise ganz beträchtlich.
Unsere Maultierreiter treffen wir beim nächsten Gasthaus wieder. Sie machen Pause auf der Grenze zwischen Savoyen und der Schweiz. Hier betreten wir den Kanton Wallis dieses berühmten Landes. Nach einer Erholungspause in der Laube nehmen wir unsere Herzen, Füsse und Bergstöcke in die Hand und überqueren den nicht weiter attraktiven Col de Forclaz.
Wie eine Fata Morgana liegt plötzlich das Rhonetal vor uns, einer der spektakulärsten Anblicke der Alpen.
Nach einer Wegbiegung aber sind wir – wie soll ich sagen, «versteinert» oder «gelähmt»? Keines von beidem, aber beide Begriffe beschreiben unseren Geisteszustand ganz genau, obwohl sie sich eigentlich auf den Körper beziehen: Wie eine Fata Morgana liegt plötzlich das Rhonetal vor uns, einer der spektakulärsten Anblicke der Alpen.
Oh! Liebe Leserin, lieber Leser (Frage: Weshalb geht man immer davon aus, dass Lesende lieb sind?), wenn ich Ihnen bloss diese erhabene, einmalige Landschaft auf die Netzhaut drucken könnte, anstatt sie mit meiner plumpen Beschreibung zu verunstalten!
Stellen Sie sich vor, wie die Rhone sich auf dreissig Kilometer durch dieses weitläufige Tal schlängelt und parallel zu ihr die Hochstrasse nach Italien und auch die im Bau begriffene Eisenbahn. Die zerfurchten Bergkämme sind mit Tannen bewachsen und durchzogen von schroffen Feldwänden. In der Ferne bilden die verschneiten Spitzen der Diablerets, der Wildstrubel und die kahle Gemmi eine weitläufige, einsame und erhabene Kulisse.
Ruskin nennt unsere Route «eine reine und durchgehende Fülle von verschiedenen Arten von Bergen der edelsten Art. Anders als auf dem Weg entlang dem Trient zwischen Vallorcine und Martigny hat der Mensch hier noch nicht viel angerichtet. Die Route führt weiter aus dem Rhonetal hinaus, hier winden sich die Wege zunächst steil zwischen den Nussbäumen hindurch, wie eine Wendeltreppe, die auf einen gotischen Turm führt. Dann führen sie über die Hügelkämme in ein nahezu unbekanntes Tal, das aber dicht mit fleissigen und geduldigen Menschen besiedelt ist.»
Wir aber gehen in der entgegengesetzten Richtung und lassen uns von näher gelegenen Aussichten ablenken, von smaragdgrünen Wiesen mit einem aus nussbraunen Chalets bestehenden Dörfchen. Am Ende dieser sechs Kilometer umspannenden Landschaft liegt Martigny – unser Ziel.
Wir signalisieren unseren «armen Füssen», dass wir ganz bald auf die Zielgerade einbiegen. Wie haben wir uns getäuscht!
In der klaren Luft scheint das Städtchen ganz nahe zu liegen und wir signalisieren unseren «armen Füssen», dass wir ganz bald auf die Zielgerade einbiegen.
Wie haben wir uns getäuscht!
Jede kleine Wegbiegung zeigt uns, dass der Weg keine Direttissima darstellt, sondern immer länger zu werden scheint. Ausserdem führt er durch Geröll, das Hackfleisch aus unseren Schuhsohlen machen will.
Wir verzichten sogar auf die Maultiere, da ein Abstieg auf einem Maultierrücken noch ermüdender ist als ein Abstieg zu Fuss. Tatsächlich verzichtete eines der Maultiere auf seinen Reiter. Zugegeben, es zeigte eine gewisse orientalische Eleganz im Niederknien, bevor es sich ganz lässig über den Weg rollte. Als unser Don Quixote wieder unverletzt auf seinen Beinen stand, mussten wir herzlich lachen.
Die Strasse nach Martigny führt durch eine Allee von Nuss-, Birn-, Apfel- und Pflaumenbäumen, aber anders als der Fuchs lügen wir nicht, wenn wir Ihnen sagen, dass sie allesamt sauer waren.
Die Strasse nach Martigny führt durch eine Allee von Nuss-, Birn-, Apfel- und Pflaumenbäumen, aber anders als der Fuchs lügen wir nicht, wenn wir Ihnen sagen, dass sie allesamt sauer waren. Im Schatten dieser Bäume erreichen wir Martigny – aber nein, erst Martigny-Bourg. Vor uns liegt noch eine weitere Meile auf diesen Steinen, bevor wir unser Ziel erreichen.
Als wir uns dem Städtchen nähern, hält es der Bergführer für angebracht, den Zügel des reiterlosen Maultiers am Schweifriemen eines anderen Maultiers festzumachen, und sucht sich dazu das Maultier aus, auf dem unsere Künstlerin sitzt.
Auf der Strasse vertrugen sich die beiden Tiere noch recht gut, aber als wir den Marktplatz des braven Städtchens überquerten, wurde mein Tier entweder von Hochmut oder von Widerstandsgeist erfasst und wollte seinen pflichtvergessenen Artgenossen nicht länger durch die Strassen ziehen. Es fing an, feindselig auszuschlagen, erst gemächlich, dann doppelt so schnell.
Dieses Signal reichte aus, um ein Absitzen zu suggerieren, während das Maultier seinen Einsatz im Achtel- und Sechzehnteltakt vor dem Hôtel «Le Clerc» und den neugierigen Zuschauern fortsetzte.
Nach unserer ersten Tageswanderung sassen wir im Speisesaal und spürten, wie hungrig und müde wir waren. Mister James hatte die ganzen vierzig Kilometer zu Fuss zurückgelegt, die Damen im Schnitt 27 Kilometer. Gerne hätten wir noch einen halbstündigen Spaziergang bis zur Burgruine La Bâtiaz gemacht, aber unsere müden Füsse waren Grund genug, sie nur aus der Ferne zu bewundern, während unsere Künstlerin eine rasche Skizze aufs Papier warf.
Martigny ist nicht uninteressant, da es an der Simplon-Route liegt und die Routen von Chamonix und dem Grossen Sankt Bernhard hier enden. Tatsächlich liegt das Hauptquartier der «frommen Mönche von Sankt Bernhard» in einem Kloster im Städtchen. Sie kommen regelmässig hierher, um sich auszuruhen und etwas Abwechslung zu haben.
In den Jahren 1545 und 1818 überschwemmten die Dranse und die Rhone das Städtchen massiv, nachdem sie sich jahrelang hinter einem Eis- und Schneewall gestaut hatten. Ganz Martigny einschliesslich der Bewohner wurde vernichtet. Nur die malerische und einfache Kirche mit ihrem Glockenturm, deren runde Mauersteine ihr Alter verraten, überstand die Sturzflut.
Die für Martigny eingeplanten zwei Stunden waren bald zu Ende und wir machten uns zu Fuss auf zur Bahnstation. Was für ein Spaziergang! Im Leben macht man nur selten Spaziergänge, die einen so unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Alle unsere ohnehin schon geschärften Sinne kamen auf ihre Kosten – die Natur befriedigte das Gehör, den Gesichtssinn und die Nase mit einer einmaligen Erfahrung. Ja, dieser Spaziergang sollte eine Erinnerung fürs Leben bleiben.
Im Westen liegen sich zwei Bergvorsprünge gegenüber, einer von ihnen gekrönt von der Burgruine La Bâtiaz, der andere von einem Kranz aus Granitblöcken, die den Himmel zerschneiden und das Tal abschliessen. Zwischen ihnen ein leuchtend bernsteingelber, bogenförmiger Himmelsausschnitt.
Auf unserem Weg atmen wir den Abendduft nach Heu und Blumen ein, die Glocken im alten Kirchturm von Martigny schlagen derart melodiös, dass man meinen könnte, Glocken und Luft seien extra zu unserer Freude arrangiert worden.
Der Sonnenuntergang färbt die Berge zinnoberrot und säumt ihre Einschnitte mit leuchtendem Scharlachrot. Gleichzeitig sind im ganzen Tal die Bäume, die Böschungen und die Hecken in sanftes weiches Licht getaucht.
Auf unserem Weg atmen wir den Abendduft nach Heu und Blumen ein, die Glocken im alten Kirchturm von Martigny schlagen derart melodiös, dass man meinen könnte, Glocken und Luft seien extra zu unserer Freude arrangiert worden.
Dies war der letzte Bahnhof unserer Reise, den wir in englischer Reisebegleitung erreichten. Wir alle schieden ungern von unserem freundlichen Mister Cook, der die Reiseleitung nun den männlichen Clubmitgliedern übertrug und – traurig, wie uns schien – den Schönheiten der Schweiz den Rücken kehrte und zurückfuhr, um sich um seine «einzelgängerische Gesellschafterin» zu kümmern und weitere Reisen zu arrangieren.