Miss Jemimas Tagebuch: Samstag, 4. Juli 1863
Wir standen um 4.30 Uhr auf und brachten das Frühstück rasch hinter uns. Bald sassen wir in einer klapprigen alten Kutsche, die von zwei grobschlächtigen Pferden gezogen wurde, und beeilten uns, rechtzeitig zum Dampfer nach Spiez am Thunersee zu kommen.
Wir fuhren zwischen sehr steilen Hügeln hinab nach Frutigen. Die Chalets am Strassenrand waren grösser und anspruchsvoller als alle, die wir bis jetzt gesehen hatten, die Gärten ordentlicher und ein neues Hotel mit geschmackvoller Umgebungsgestaltung zeugte von einigem Unternehmergeist.
Die Erklärung dafür dürfte auf der Hand liegen: Wir befanden uns in einem protestantischen Kanton.
Unser Weg blieb unverändert schön, obwohl wir Kiental und die Blüemlisalp mit ihren drei Zinnen hinter uns liessen. Wir passierten den Fuss des Niesen und des Stockhorn [sic] und fuhren am Eingang zum verlockenden Simmental vorbei.
Bald schon hatten wir das Schloss Spiez erreicht, das so malerisch am Fuss des Niesen steht. In einem Ruderboot wurden wir über das grüne Wasser des Thunersees gebracht, um den soeben ankommenden Dampfer zu erreichen.
Die Landschaft, an der uns unsere halbstündige Dampferfahrt vorbeiführte, muss man gesehen haben, um an ihre Existenz zu glauben.
Die Landschaft, an der uns unsere halbstündige Dampferfahrt vorbeiführte, muss man gesehen haben, um an ihre Existenz zu glauben. Wir glitten an einem wunderschönen Panorama vorbei. Leider mussten wir aus Zeitmangel darauf verzichten, mit dem Dampfer bis Thun zu fahren und dort vom Friedhof aus die berühmte Aussicht zu geniessen.
In Neuhaus, einem Dorf auf der Landenge zwischen Thun und Brienz, gingen wir an Land und nahmen eine Kutsche nach Lauterbrunnen, zum Staubbach.
Wir waren kaum drei Kilometer über Interlaken hinausgekommen, als ein fürchterliches Gewitter losbrach. Unsere Pferde bäumten sich auf vor Schreck und fuhren unsere Kutsche rückwärts in die Werkstatt eines freundlichen Schusters hinein (hierbei brach allerdings die Deichsel).
Der Schuster kam herausgerannt, um uns zu helfen, und der Schusterjunge wurde losgeschickt, um in der Nachbarschaft Stühle für uns zu holen. Wir blieben in der Schusterwerkstatt, bis der Sturm nachliess. Da er so heftig war, war er auch bald vorüber.
Unsere Route führte nun durch Weideland. Hier stand auch die Burg Unspunnen «wie ein bewaffneter Wächter an der Pforte zum verzauberten Land» mit ihrem viereckigen Bergfried und runden Türmchen.
Fünf Kilometer weiter beginnt das Lauterbrunnental, das ein Schriftsteller vor Kurzem so beschrieb: «An Tälern kommt ihm keines gleich, die Felsen, der Wildbach, das einsame Chalet, der Jägerfels, die ewigen Alpen und die ganze köstliche Ausstattung mit Bäumen und Wiesen sind hier von einer mächtigen Hand ausgeschüttet worden».
Wir überqueren die weisse Lütschine und erreichen den Fuss eines kolossalen Steilhangs, der Hunnenfluh. Auf dem ganzen Weg durch das Tal erhob sich die massive Kuppe der Jungfrau, «der jungfräulichen Königin des Oberlands» vor uns, drapiert mit Schnee, der einen starken Kontrast zur grünen Talsohle bildete.
Als wir beim Capricorn ankamen, erlitten wir den dritten von ganzen vier Regengüssen auf unserer dreiwöchigen Reise. Aber wir konnten uns nicht beklagen, waren wir doch buchstäblich im Tal der Berge.
Nach unserem siebengängigen Mittagessen machten wir uns auf zum «stäubenden Bach» oder Staubbach, laut dem Dichter Wordsworth «einer der berühmtesten Wasserfälle der Schweiz». «Dieser kühne, dieser helle, dieser himmelsgeborene Wasserfall» nennt er ihn, und wenn man an der Felswand entlang nach oben schaut und nichts als Wolken über sich sieht, kann man den starken Vergleich leicht nachvollziehen.
Er unterscheidet sich in seiner Natur von vielen anderen Wasserfällen, da es sich um einen senkrechten Strom handelt, der sich durch die Wirkung der Luft und die Reibung an den Felsen graziös zu einem schleierartigen Fächer in erfrischender Bewegung erweitert und in der Sonne bebt und funkelt.
Hinter dem Staubbach strömte noch ein weiterer Wasserfall ins Tal, eine Kammerzofe für diese Königin der Wasserfälle. «Und wie der Rauch sich senkt, so auch der schlanke Fluss, Entlang dem Kliff zu fallen schien, und hielt und fiel erneut.»
An der Strasse vom Wasserfall bis zum Gasthof reihten sich Souvenirläden mit Schnitzereien aneinander und jugendliche Bettler boten einzelne Blumen oder Kiesel zum Kauf an.
An der Strasse vom Wasserfall bis zum Gasthof reihten sich Souvenirläden mit Schnitzereien aneinander und jugendliche Bettler boten einzelne Blumen oder Kiesel zum Kauf an. Der Reiseschriftsteller La Trobe hat Folgendes zu diesen Jugendlichen zu sagen: «Sie belagern noch den verschlungensten Pfad in einer langen Reihe bis zu einer bedeutenden Höhe, und wie ein Korn Schiesspulver warten sie nur darauf, dass ein Reisender kommt, um sofort zu explodieren.»
Zurück in Interlaken wurden wir von hellem Sonnenschein empfangen und quartierten uns im Hôtel du Lac am Ufer des Brienzersees ein.
Die Damen der Gruppe fanden hier ihr lang entbehrtes Gepäck vor und blendeten uns mit halb vergessener Pracht, während wir vor dem Kursaal flanierten und die zahlreichen Hotels betrachteten, die den Ort massiv prägen. Eine edle Nussbaumallee erstreckt sich vor diesen Pensionen.
An diesem Abend streiften wir durch den Ort, bis die Sterne über den Nussbäumen aufgingen und «Fair Lady Luna» ihren Auftritt hatte, um der hübschen Szene die Ehre zu geben.
Es dauerte lange, bis wir unsere müden Füsse überzeugen konnten, die Nussbaumallee und das Panorama der Jungfrau zu verlassen, um unsere bequemen Räume im Hôtel du Lac mit seinen unvergleichlich sauberen, mit Vorhängen versehenen kleinen Schlafzimmern aufzusuchen.