Wir blickten auf den langen, sanften Abstieg nach Grindelwald und fielen derselben Täuschung zum Opfer wie im Rhonetal.
Miss Jemimas Tagebuch: Montag, 6. Juli 1863 (Fortsetzung)
Wir blickten auf den langen, sanften Abstieg nach Grindelwald und fielen derselben Täuschung zum Opfer wie im Rhonetal: Wir glaubten, dass wir bis Grindelwald bloss noch eine Stunde zu gehen hätten. Wie gross war unsere Überraschung, als wir nicht eine, nicht zwei, sondern drei Stunden bis zu unserem Ziel benötigten!
Der Pfad war sehr rau und steinig und teilweise auch steil: Trotzdem hüpften wir wie Geisslein über die Steinblöcke, übersprangen Felsspalten und kamen überaus rasch vorwärts. Unser sorgloser Freund, der wohlbeleibte Engländer, nahm den Abstieg auf eine ähnlich halsbrecherische Art vor wie wir.
Er hatte die Rigi ‹gemacht› und ‹furchtbares Wetter› erlebt. Nun war er unterwegs, um das gegenüberliegende Faulhorn zu ‹machen›.
«Fidel durch die Schweiz», sagte er, als er uns überholte. Wir waren einigermassen überrascht, wie aktiv dieser Herr trotz seiner Leibesfülle war, und respektierten ihn daher wesentlich mehr als zuvor, als er still auf dem Sofa im Capricorn gesessen hatte. Er hatte die Rigi «gemacht» und «furchtbares Wetter» erlebt. Nun war er unterwegs, um das gegenüberliegende Faulhorn zu «machen».
Unser Hotel, das Hotel Adler, lag am oberen Ende des langgestreckten Dorfes Grindelwald und wir waren allmählich furchtbar müde. Ein Teil unserer Gruppe ging voraus und traf zu seinem Erstaunen in der Tür des Hotels auf Mathilde, ihren Herrn Vater und ihre Frau Mutter. Sich in einem fremden Land wiederzutreffen, erfreute uns sehr und weckte unsere Lebensgeister, obwohl es doch nur flüchtige Bekannte waren, die uns hier begrüssten.
Nach dem Tee durfte Mathilde uns auf einen Spaziergang begleiten. Wir gingen alle, mit Ausnahme des Professors, der in gewohnter Selbstkasteiung im Hotel blieb und Briefe an Freunde zu Hause verfasste. Wir besichtigten den Friedhof und lasen die Grabinschrift von Pfarrer Mouron aus Vevey, der im Jahr 1821 auf dem Gletscher wissenschaftliche Forschungen anstellte und sich dabei auf seinen Bergstock stützte. Der zerbrach, was dem Pfarrer den tödlichen Sturz in eine Gletscherspalte eintrug – 200 Meter tief.
Diese beiden Gletscher in Grindelwald mit den Namen Unterer und Oberer Grindelwaldgletscher sind ein ausserordentlicher Teil der Schöpfung.
Diese beiden Gletscher in Grindelwald mit den Namen Unterer und Oberer Grindelwaldgletscher sind ein ausserordentlicher Teil der Schöpfung, wie sie so zwischen den senkrecht aufragenden Steilhängen des Wetterhorns und des Mättenbergs zu Tal fliessen.
Beim Rückblick auf die Reise insgesamt sind die Tage, die wir auf Wanderungen oder Maultierritten verbracht haben, die erfreulichsten gewesen. An diesen Tagen, weit weg vom Stadtleben, wurden wir mitten in die grossen Naturwunder geführt und hatten das Gefühl, dass wir die Welt und ihre Moden weit hinter uns liessen.
Unser Leben hatte sich radikal geändert, keine der bisherigen Routinen bestand noch. Alle Gedanken an Uhr- und Jahreszeiten verblassten.
Unser Leben brauchte keine andere Romantik als die einer vollkommenen Freiheit, wie wir sie genossen. Unser Leben hatte sich radikal geändert, keine der bisherigen Routinen bestand noch. Alle Gedanken an Uhr- und Jahreszeiten verblassten, wir lebten ausschliesslich in der Gegenwart und genossen sie.
Wir alle hatten das Gefühl, dass die Erinnerung an diese schönen Tage den Rest unseres Lebens überstrahlen würde.
Miss Jemimas Tagebuch: Dienstag, 7. Juli 1863
Mister W. W. und Mister James standen früh auf und wanderten zum Oberen Grindelwaldgletscher sowie durch die Eisgrotte, ein rund siebzig bis achtzig Meter langer, ins Eis geschnittener Tunnel, in dem der Lichteinfall die transparenten Farben des Eises wunderbar zur Geltung bringt.
Nach dem Frühstück vertrauten wir uns einem Bergführer an, dessen Deutsch wir zwar kaum verstanden, der sich aber trotzdem gut um die Damen kümmerte.
Nach dem Frühstück vertrauten wir uns einem Bergführer an, dessen Deutsch wir zwar kaum verstanden, der sich aber trotzdem gut um die Damen kümmerte, während sie den unteren, grösseren Gletscher (er erstreckt sich über 300 Quadratkilometer) erkundeten.
In der ersten Stunde führte der Anstieg durch Heuwiesen und ab und zu ein Kiefernwäldchen, dann bogen wir auf einen engen Felspfad ein, der in die Wand des Mättenbergs gehauen war. Die heisse Sonne kannte keine Gnade und tat ihr Bestes, um wenigstens uns zum Schmelzen zu bringen, wenn es ihr schon mit dem Gletscher nicht gelang.
Die Oberfläche des Gletschers war weniger zerklüftet und wies weniger Formen und Türme auf als das Mer de Glace. Dafür waren die Gletscherspalten zahlreicher.
Unser Pfad war mit ein paar Tannenbalken gestützt worden. Hier führte er über einen Abgrund – ein Fehltritt, und mit uns wäre es aus gewesen.
Wir sahen auf den Gletscher hinab und konnten einen Reisenden erkennen, der sich anscheinend in diesem Eislabyrinth verirrt hatte. Unser Bergführer rief ihm zu, dass er in der Mitte des Gletschers bleiben solle, und schickte einen anderen Bergführer, um ihn zu retten. Immer wieder sahen wir zu dem Abenteurer hin und schliesslich erblickten wir ihn ameisengross am Fuss des Eiger mit seinem Bergführer wieder.
Unser Pfad war mit ein paar Tannenbalken gestützt worden. Hier führte er über einen Abgrund – ein Fehltritt, und mit uns wäre es aus gewesen.
Bald erreichen wir den Gletscher und sehen, dass der Abstieg ordnungsgemäss gesichert wurde – namentlich mit ein paar Tannenbrettern, über die Sprossen genagelt waren, die als Stufen dienten. Die Entdeckungsreisenden sollen diese Stufen hinabhüpfen (und dabei möglichst nicht an die gähnende Gletscherspalte unter ihnen denken).
Später sollten wir erfahren, dass dieser Handlauf eher als Orientierung für das Auge denn als Geländer gedacht war.
Zwar gibt es einen Handlauf, aber angesichts der massiven Umgebung wirkt er mehr wie ein Streichholz als wie ein eigentliches Geländer. Später sollten wir erfahren, dass dieser Handlauf eher als Orientierung für das Auge denn als Geländer gedacht war. Wie auch immer, es war ja nur eine Bergleiter, eine tolle Chance für den Club und Gleichgesinnte, ihren Mut und ihr Geschick zu beweisen.
Ein Teil der Damen hielt es allerdings für besser, die Schönheit des Gletschers aus der Ferne zu betrachten, statt traurige Berühmtheit zu erlangen wie weiland Pfarrer Mouron. Die Herren und unser Bergführer wanderten äusserst unternehmungslustig an den Gletscherspalten entlang und entdeckten einen Fluss, Wasserfälle und Grotten im Eis. Wir aber hielten ihren sicheren Ab- und Wiederaufstieg auf der Hühnerleiter für das grösste Wunder auf ihrer Wanderung.