«Diese hervorragende Turnerin wurde nicht an die Juniorinnen-Weltmeisterschaft in Cluj-Napoca geschickt», schreibt Erik Moers auf Facebook. Darunter postet der international anerkannte Talentscout ein Video von der Schweizer Gymnastin Sophia Carlotta Chiariello. In den Augen des Belgiers, der für mehr Fairness und gegen Korruption in der Rhythmischen Gymnastik kämpft, ist es ein Fehler, Chiariello nicht an die Juniorinnen-WM zu schicken. Diese fand vom 7. bis 9. Juli in Rumänien statt – ohne Schweizer Beteiligung.
Sie hat alles, was es braucht, um an der Juniorinnen-Weltmeisterschaft ein Top-Resultat für die Schweiz zu erzielen.
Die 14-jährige Bernerin gilt als eines der vielversprechendsten Nachwuchstalente der Schweiz. Im Frühling holte Chiariello als erste Schweizerin überhaupt eine Silbermedaille im Mehrkampf eines Turniers des Weltturnverbands (FIG). Vergangenes Jahr erreichte sie, als jüngstes Mitglied der Schweizer Delegation, an der Juniorinnen-EM in Tel Aviv eine Top-15-Klassierung.
Selten habe ein Land wie die Schweiz ein Talent mit diesem Potenzial in seinen Reihen, sagt Erik Moers. «Sie hat alles, was es braucht, um an der Juniorinnen-Weltmeisterschaft ein Top-Resultat für die Schweiz zu erzielen.» Für Moers spielt der STV mit der Karriere seines Nachwuchstalents. «Ein Verband muss seine Athletinnen unterstützen und promoten.»
Sophia Carlotta Chiariello will zu den Vorgängen beim STV keine Stellung nehmen. Sie bestätigt einzig, dass sie gerne an der Juniorinnen-WM teilgenommen hätte. Die Interview-Absage überrascht nicht. SRF Investigativ liegen Kaderverträge von Athletinnen aus der Turnszene vor. Einige von ihnen enthalten Klauseln, bei denen sich Athletinnen dazu verpflichten, sich nicht kritisch gegen den Turnverband zu äussern. Sonst droht ihnen der Ausschluss aus dem Kader.
Ariella Kaeslin: «Wettkämpfe sind das beste Training»
Der ehemaligen Kunstturnerin Ariella Kaeslin widerfuhr in ihrer Karriere Ähnliches wie diesen Sommer den Nachwuchstalenten der Rhythmischen Gymnastik. Kaeslin durfte 2007 an der EM nur zuschauen. Der Turnverband verwehrte ihr damals die Teilnahme, weil das Frauen-Team die unfaire Behandlung des damaligen Nationaltrainers nicht mehr hinnehmen wollte. «Das war enorm enttäuschend und frustrierend», erinnert sich Kaeslin. «Es fühlte sich an, als wäre der ganze Aufwand für nichts gewesen.»
Als Spitzensportlerin richte man alles auf Grossanlässe aus. «Ich habe damals sogar darüber nachgedacht, vom Spitzensport zurückzutreten.» Solche Grossanlässe stellten einen grossen Antrieb für die Motivation dar. Auch seien sie essenziell, um Erfahrungen sammeln zu können, sagt die ehemalige Schweizer Weltklasse-Turnerin. «Jeder verpasste Grossanlass ist eine verpasste Chance.» Karrieren im Turnen und in der Rhythmischen Gymnastik seien «nicht unlimitiert lang», so Kaeslin.
Turnverband meldet an, dann wieder ab
Der STV hatte ursprünglich drei Gymnastinnen für die Juniorinnen-WM in Rumänien angemeldet, zumindest provisorisch. Das sei ein Signal an die Turnerinnen, sagt Ex-Talentscout Moers. «Im Vorfeld eines solchen Grossanlasses trainierst du anders, du bereitest dich speziell auf diesen Wettkampf vor.» Denn: In der Regel folgt auf eine provisorische Anmeldung auch eine Teilnahme. Alle 60 Nationen, die provisorisch angemeldet waren, haben sich auch definitiv angemeldet – ausser die Schweiz. Das zeigen Anmeldelisten des Weltturnverbands (FIG).
In der Szene hatte das Hin und Her bereits im Frühling für Kritik gesorgt. Oliver Dütschler, welcher der Nischen-Sportart eine Plattform geben will und die Webseite Swiss RG führt, fragte den Turnverband daraufhin, ob dieser seinen Verzicht auf die Juniorinnen-WM mit den Cheftrainerinnen der regionalen Leistungszentren abgesprochen habe. Das ist üblich, weil die Trainerinnen die Athletinnen am besten kennen und für die Trainingspläne verantwortlich sind.
Der STV antwortete Oliver Dütschler: «Nachdem sich die Mehrheit der Trainerinnen gegen eine allfällige Teilnahme ausgesprochen beziehungsweise das Argumentarium des STV unterstützt hatte, verzichtete man – wie ohnehin geplant – auf eine definitive Anmeldung.»
STV verdreht Tatsachen
Recherchen von SRF Investigativ zeigen ein anderes Bild. Die Cheftrainerinnen und Vertreterinnen der regionalen Leistungszentren – dort, wo die Nachwuchstalente trainieren – haben sich nicht gegen eine Teilnahme an der Juniorinnen-WM ausgesprochen. Im Gegenteil: Die Mehrheit hat sich dezidiert für eine Teilnahme ausgesprochen.
Nach der Veröffentlichung der Magglingen-Protokolle im Herbst 2020 hatte der Turnverband einen Neuanfang und mehr Transparenz in der Rhythmischen Gymnastik versprochen. Denn: Ein externer Untersuchungsbericht hatte beim STV unter anderem mangelnde professionelle Strukturen festgestellt.
Bereits bei den im Frühling 2023 von SRF Investigativ enthüllten Missständen im Spitzensportbereich Trampolin zeigte die neue Verbandsleitung wenig Wille zu Transparenz und machte Aussagen zum Umgang mit ethischen Richtlinien, die sich im Nachhinein als unzutreffend herausstellten. Transparente Kommunikation ist für Ariella Kaeslin das Mindeste: «Wenn dies nicht der Fall ist, leiden meistens die Athletinnen und ihre Leistungen darunter.»
Eine Juniorinnen-WM-Teilnahme ist auf dem aktuell gültigen Athletenweg 2023 nicht vorgesehen.
Zehn detaillierte Fragen – unter anderem zum Anmelde-Hin-und-Her und den Gründen für die verdrehten Tatsachen – beantwortet der Turnverband mit einem einzigen Statement: «Eine Juniorinnen-WM-Teilnahme ist auf dem aktuell gültigen Athletenweg 2023 nicht vorgesehen.» Dies gelte für alle olympischen Sportarten – Kunstturnen, Rhythmische Gymnastik und Trampolin. «Bislang gab es noch nie eine Teilnahme von STV-Athletinnen und -Athleten an einer Juniorinnen-WM», so der Turnverband weiter.
Warum es trotzdem zu einer provisorischen Anmeldung gekommen ist, auch dazu will der STV nichts sagen. Trotz neuer Führungsriege scheint auch drei Jahre nach den Magglingen-Protokollen beim grössten Schweizer Sportverband noch vieles im Argen zu liegen. Laut einem kürzlich veröffentlichten Artikel der «Weltwoche» hat der STV nach den Magglingen-Protokollen und vor den entscheidenden Untersuchungen reihenweise heikle Mails gelöscht.